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Die Aufräumer

Wie kommt man weg vom Drogenmissbrauch? Mit Arbeit und Alkohol.
Zumindest in einem umstrittenen Essener Suchthilfe-Projekt:
In der Schichtpause ist Bier erlaubt



Berliner Zeitung, 02. 03.2015

Zehn Uhr morgens, ein mausgrauer Tag mit Dauerregen. Es gibt viele Orte, an denen man jetzt lieber wäre, trotzdem hat Micha beschlossen, sich in den kalten Wind zu stellen, der heute durch die Straßen der Essener Innenstadt zieht. Zwei Bier hat er trinken müssen, anders wäre er gar nicht aus dem Haus gekommen. „Normalerweise würde ich jetzt zum Bahnhofsvorplatz gehen und mich sinnlos besaufen“, sagt er. Stattdessen hat er die orangefarbene Uniform eines Müllmanns angezogen, sich eine Eisenzange geschnappt und in den Regen gestellt. „Gut, dass ich diesen Job habe“, sagt er. Am Ende des Tages wird er vielleicht zehn Bier getrunken haben, schätzt er. Wenig genug, um auch morgen zur Arbeit zu erscheinen, natürlich nur nach den ersten beiden Bieren des Tages.

54 Jahre alt ist der hagere Mann mit Glatze und dem friedlichen Gesicht, der seinen Nachnamen nicht nennen will. Er ist einer der ersten sechs Teilnehmer eines bundesweit einzigartigen Projekts: „Pick-Up“ hat es die Essener Suchthilfe genannt, das seit vier Monaten erst läuft. Man wendet sich damit an Menschen, die von mehreren Rauschmitteln gleichzeitig abhängig sind und die es ohne Drogen nicht schaffen würden, über den Tag zu kommen. Einige von ihnen sind obdachlos, aber nicht alle. Sie haben sich freiwillig gemeldet, jeden Werktag vier Stunden lang Essen ein wenig schöner zu machen, also an Szenetreffpunkten Spritzen wegzuräumen, aber auch normalen Müll in der Fußgängerzone.

Die Abhängigkeit akzeptieren

Damit die Abhängigen das durchhalten, bietet man ihnen eine relativ schwache Droge an: In den Arbeitspausen dürfen die Teilnehmer von „Pick-Up“ Bier trinken, das ist wenigstens kein Schnaps oder kein Heroin. Ein ähnliches Projekt gibt es in Europa bisher nur in Amsterdam. Dass es nur ähnlich und nicht identisch ist, liegt an den Essener Teilnehmern selbst: Sie trinken vor der Arbeit, sie trinken hinterher, aber das Bier, das sie währenddessen trinken dürften, haben sie bisher nicht angerührt. Sie sind für vier Stunden abstinent.

„Uns hat das selbst überrascht. Ich glaube, die Möglichkeit, Bier zu trinken, nimmt gleichzeitig den Druck, es zu tun.“ Uwe Wawrzyniak arbeitet bei der Suchthilfe Essen und trägt ein Fan-Shirt der US-Serie „Breaking Bad“, in der es um nichts als Drogen geht. Das ist natürlich Zufall, aber es gehört zum Konzept von „Pick-Up“, die Abhängigkeit von Menschen zu akzeptieren – einfach, weil es die einzige Möglichkeit ist, sie zu erreichen. „Wenn hier jemand am Morgen mit einer Alkoholfahne hereinkommt, ist das für uns kein Grund zu sagen: Das geht heute aber nicht.“

Wäre es so, würde die Arbeit heute ausfallen: Zwei „Pick-Up“-Arbeiter sind an diesem Morgen aus guten Gründen entschuldigt, die vier, die eingetroffen sind, riechen alle nach einem flüssigen Frühstück. Uwe Wawrzyniak gibt ihnen erst einmal eine Vitamin-B1-Tablette gegen die Mangelerscheinungen, die Drogen hervorrufen, dann bekommen alle ein kräftiges Frühstück, ein richtiges. Später werden sie ein Mittagessen erhalten und 1,25 Euro für jede Stunde Arbeit, abzüglich ein Euro für das Essen.

Markus braucht neue Zähne

Wenn man Micha fragt, wie er zu seinen zehn Bier am Tag gekommen ist und dem Heroin, das ihn auch immer wieder verfolgt, dann erzählt er von seiner Karriere als Aktienhändler. Eigentlich sei er Altenpfleger gewesen, aber eines Tages habe ihn in einer Kneipe jemand gefragt, ob er über das Telefon Aktien verkaufen wolle. Das sei toll gelaufen, eine Zeit lang habe er sogar auf Teneriffa leben können. Dann aber habe er sich in die falsche Frau verliebt, nach 25 Jahren Abstinenz doch wieder zum Heroin gegriffen, und sein Leben sei ihm entglitten. Das klingt ungefähr so, wie es sich liest, doch dann schimpft er minutenlang über die dritte Tranche der Telekom-Aktie und die Arbeit der Bafin, und man fragt sich, ob man jetzt nur den Teil mit der Kneipe glauben soll oder vielleicht doch auch den Rest. „Ich muss aus dieser Situation irgendwie rauskommen, dann könnte ich vielleicht noch einmal so leben. Diesmal würde ich gerne nach Tel Aviv gehen.“
Bodenständiger sind die Wünsche von Mike, 39. „Ich habe mal Familie gehabt, mehrmals.“ Seit über zwei Jahren hat er seinen jüngsten Sohn nicht mehr gesehen, die Mutter blockt jeden Kontakt ab. Seinen Heroinkonsum habe er im Griff, bald sei er die Droge los. „Ich mache das alles, um den Jungen wiederzusehen.“ Markus, 47 Jahre, braucht vor allem neue Zähne. Das müsste ein Spezialist machen, aber man könne ihm keine Betäubung geben, sagt er, seine Arme seien von den Methadon-Einstichen kaputt. Man muss wissen, wo diese Männer herkommen, um zu verstehen, was die Stadtreinigungsuniform mit ihnen macht. Es geht dabei nicht einfach darum, dass ein paar knallorangene Gestalten Müll einsammeln. Sondern darum, dass man auf einmal keine Drogensüchtigen mehr vor sich hat, sondern eben Reinigungskräfte.

20 Kästen Bier zum Projektstart

Mike fischt irgendwann eine Geldbörse aus dem Gebüsch, das Bargeld fehlt, aber die Ausweise eines Mannes aus Bochum sind noch drin. „Das ist schon die fünfte, die wir in den letzten Wochen finden.“ Markus geht in einer Raucherpause auf zwei junge Frauen zu und fragt sie nach Feuer. Das ist eigentlich gar nichts und doch etwas ganz anderes als man von diesem Menschen vor Minuten erwartet hätte. Und siehe da – er bekommt es und erntet nicht mal einen schiefen Blick. Wie ein Müllmann, der nach Feuer fragt. Es ist ein Abenteuer, irgendwie. Nach Bier fragt keiner.

„Wir haben zum Projektstart im Oktober 20 Kästen Bier gekauft. Die stehen alle noch bei uns im Keller“, sagt Olaf Stöhr, der als pädagogischer Anleiter auf den meisten der Ausgänge der Abhängigen dabei ist. Fragt man, wie sie es eigentlich schaffen, über den Tag verteilt acht, zehn oder auch zwölf Bier zu trinken, gleichzeitig aber vier Stunden am Stück abstinent zu bleiben, bekommt man eine kurze Antwort. „Wir sind beschäftigt, wir brauchen beide Hände“, sagt Micha.

Dass es bei „Pick-Up“ so läuft, war nicht so geplant – und es gibt keine Garantie, dass es bei der Abstinenz bleibt. „Wir können nur sagen: Bis hierher ist es gut gelaufen“, sagt Olaf Stöhr. Anders sind die Erfahrungen beim Amsterdamer „Veegproject“, dem 2011 gestarteten Vorbild von Pick-Up: Bis zu fünf Bier erhalten die dort putzenden Männer und Frauen am Tag – und auch noch Tabak obendrauf. Trotzdem gilt das „Fegeprojekt“, wie es übersetzt heißt, als Erfolg. Eben weil die Projektteilnehmer jetzt über den Tag verteilt Bier trinken und nicht Hochprozentiges.

Das überzeugt nicht jeden. Monatelang hatte sich die Stadt Essen mit der Einführung „Pick-Up“ Zeit gelassen, immer wieder gab es Widersprüche im Stadtrat. Er habe Angst, „dass Essen am Ende der Lächerlichkeit preisgegeben wird“; sagte damals etwa der sozialpolitische Sprecher der SPD, Karlheinz Endruschat. Als es dann im Oktober Wirklichkeit wurde, war in den Zeitungen gleich von einem „Suff-Projekt“ die Rede oder einer „Bier-Prämie für Alkoholiker.“

Ein wenig Struktur für den Tag

Das stimmt natürlich ein bisschen und ist gleichzeitig total falsch – je nach Blickwinkel. Wer will, der kann hochgradig abhängige Menschen sehen, die auch noch Bier bekommen. Man kann aber auch einen Reinigungstrupp sehen, dessen Mitglieder einfach dazu gebracht werden müssen, den Arbeitstag zu überstehen, irgendwie. „Unser Projekt ist oft reduziert worden auf die Formel ‚Bier für Besen‘. Dabei ist das Bier nur ein Anreiz zum Teilnehmen, weil ein Abhängiger nun nicht den Druck hat, nichts trinken zu dürfen“, sagt Uwe Wawrzyniak. Deswegen legt man bei der Suchthilfe auch Wert darauf, dass es sich bei „Pick-Up“ um keine wie auch immer geartete Form der Therapie handelt, sondern einfach nur den Versuch, in das Leben von Menschen Struktur zu bekommen.

Es ist einfach, gegen ein Projekt wie „Pick-Up“ zu sein, weil es aus Trinkern keine voll integrierten Mitglieder der Gesellschaft macht, sondern einfach nur Trinker, die jetzt ein bisschen arbeiten. Es bringt Menschen nur ein bisschen weiter, ganz gleich, ob sie nun während der Arbeit trinken oder nur vorher und danach. Aber was wäre die Alternative? Einfach weitersaufen lassen?

Bis in den Herbst 2015 soll „Pick-Up“ zunächst laufen, dann wird Bilanz gezogen. Konkrete Ziele gibt es für die Teilnehmer nicht, aber bei der Suchthilfe hofft man, dass bei einigen von ihnen vielleicht eines zum anderen kommt: Wer jeden Tag arbeiten geht, der achtet vielleicht auch mehr auf seine Hygiene oder macht sich Gedanken darüber, wie man ein Telefonat mit einem Vermieter gestaltet. Für all diese Fragen haben die Helfer Lösungsansätze, nur müssen die Abhängigen ein Problem zunächst selbst erkennen.

Das galt auch für die Sache mit dem Türschild. Monatelang betraten die „Pick-Up“-Teilnehmer jeden Morgen einen Raum, der einfach irgendeiner war: PVC-Boden, abgewetzte Sitzecke, eine kleine Teeküche. Nichts deutete darauf hin, dass sich hier Menschen auf ihre Arbeit vorbereiten. Also ging Mike eines Abends zu einem Schildermacher, erzählte ihm von „Pick-Up“ und bekam das Schild dann von ihm geschenkt. Seither empfängt es Abhängige, Sozialarbeiter und Besucher mit dem Schriftzug „Pick-Up“ – goldfarben auf schwarzem Grund, einer Eule zur Rechten und einem Engel zur Linken.