Es
war der Koffer, der Ines Blum bewusst machte, wie einsam
sie eigentlich war. Sie hatte ihn immer dabei, wenn sie
bei ihren Eltern zu Besuch war, und nie wurde ein Wort
darüber verloren. Es war ein Koffer, den es eigentlich
nicht gab. Ein Koffer voller Dessous. „Ich bin mir sicher,
dass meine Mutter wusste, was darin ist. Aber gesagt hat
sie nie etwas.“ Irgendwann fuhr sie dann wieder und nahm
den Koffer mit. Zum nächsten Job als Messe-Hostess. So
hatte sie es ihren Eltern erzählt und so musste es sein.
Also war es auch so.
Mehr als ein Jahrzehnt lebte Ines Blum, die eigentlich
anders heißt, mit diesem Koffer. Sie schaffte ihn sich an,
als sie 17 war. Vor einem Jahr hörte sie auf, als
Prostituierte zu arbeiten – mit fast 30. In all den Jahren
besaß sie nicht mehr als einen roten Ford Ka und eine
wechselnde Menge Bargeld. Sie zog von Stadt zu Stadt,
blieb niemals lange und hatte am Ende weder Freunde, noch
wusste sie, dass es ein Leben ohne roten Ford Ka geben
kann. Es gibt in Ines Blums Geschichte keinen Zuhälter,
keine Gewalt, niemanden, der ihr Druck machte – nur
Umstände, in denen sie sich verlor. Weil das Geschäft so
ist, wie es ist. Und eben nicht, wie man sich das
vorstellt.
Frischfleisch
Zu ihrem Beruf kam sie so, wie andere Leute zu anderen
Berufen kommen: Die Schule war vorbei, das Konto leer –
und die beste Freundin hatte eine Freundin, die da einen
guten Job hatte. Zehntausend Mark im Monat machte sie.
„Also haben wir uns ein Anzeigenblatt gekauft.“ Eine
Begleitagentur suchte attraktive junge Frauen, gut
frisiert sollten sie noch sein, das war es, keine weiteren
Fragen. Sie und ihre Freundin trafen sich mit einem
freundlichen Mann im Anzug, nach dem Kaffee zeigte er
ihnen die Wohnungen, in denen sie arbeiten würden, sauber,
Whirlpool, warum nicht? „Ich habe einen Kunden, der ist
immer auf was Neues aus“, sagte der Mann. Den ersten
Termin durften sie zu zweit machen.
Es ist schwierig, mit Ines Blum ins Gespräch zu kommen.
Sie ist erkennbar ein Mensch, der einen Platz im Leben
sucht. Sie hat ein Handy, an das sie manchmal geht, oft
auch nicht. Und sie ändert bei Verabredungen, die sie
zugesagt hat, auch mal schnell wieder ihre Meinung.
Wie es war, das erste Mal als Prostituierte, darüber
erzählt sie nicht viel. Der Kunde sei sehr freundlich
gewesen, habe sie umgarnt und umschwärmt. „Ab und zu hat
er von ‚Frischfleisch‘ geredet“, sagt sie – in einem Ton,
den man hat, wenn man über den Spleen eines anderen
Menschen redet. Nichts, was man ernst nehmen müsste. Für
die volle Stunde gab es damals 190 Mark, sehr bald kam sie
auf 1.500 Mark oder mehr in der Woche. „Ich fand das toll,
nebenher etwas zu machen, von dem keiner weiß – und das
Geld natürlich auch“, sagt sie.
So ging das ein paar Monate, Ines Blum hatte ihre Kollegin
aus der Schulzeit und arbeitete in ihrer Heimatstadt
Freiburg, alles war aufregend und sicher zugleich – doch
dann ging ein Wasserrohr kaputt, und mit ihm der
Begleitservice. Nicht sofort, aber es war schnell
absehbar, dass sich die Agentur nicht mehr lange würde
halten können: Wegen des Wasserschadens musste der
Betreiber eine Wohnung schließen, was an Geld blieb, war
ihm zu wenig, um weiterzumachen. Eine Bekannte aus dem
Milieu riet Blum dann: „So wie du aussiehst, würdest du
zum Pferderennen in Iffezheim passen.“ Iffezheim, das war
Baden-Baden. Dort gab es ein Laufhaus, ein großes Bordell
mit weiten Gängen, in dem Prostituierte auf eigene
Rechnung arbeiten. Sie besorgte sich die Telefonnummer und
rief an.
Es war ein völlig anderes Leben, als sie es gekannt hatte.
Sie war nun ihr eigener Chef, zu sagen hatte sie trotzdem
nicht viel: Die Preise wurden durch das Laufhaus
festgesetzt, je nach Dienstleistung konnte man eine Stunde
mit ihr ab 50 Euro bekommen. Ines Blum lebte, wo sie
arbeitete, und konnte selbst bestimmen, wann und wie oft
sie das tun wollte. Theoretisch, die Tagesmiete von rund
100 Euro für das Zimmer wurde trotzdem immer fällig. Also
arbeitete sie viel und fertigte die Kunden oft eher ab.
Das ging drei Monate so, irgendwann wurden die Kunden
weniger, 3.000 Euro in bar hatte sie zu der Zeit schon
angespart. Sie kaufte den roten Ford Ka, 36.000 Kilometer
auf dem Tacho, und zog weiter, nach Konstanz. Es war
Oktober, und es war Messe.
Wie es dort war – es ist nicht wirklich wichtig, denn es
war vor allem: kurz. Blum arbeitete von nun an nie länger
als ein paar
Monate an einem Ort, oft nur ein paar Tage. Manchmal war
sie in einem Club, mal Bardame, mal im Laufhaus – mal in
Ingolstadt, mal in Darmstadt, mal in Mannheim. Das Schema,
nach dem es lief, war immer das gleiche: Sie kam an einen
Ort und hatte Mühe, Fuß zu fassen, unterzukommen, Kunden
zu gewinnen. Irgendwann lief es dann gut. Und das hörte
irgendwann auch wieder auf. Weil alles nach einer einzigen
Regel funktionierte: „Wenn neue Frauen in ein Haus kommen,
wollen die Kunden etwas Neues ausprobieren.“ Blum kam an
einen Ort, war Frischfleisch, dann kam neues
Frischfleisch, und sie zog weiter – dorthin, wo sie nun
Frischfleisch war. „Es ist normal, dass man viel rumkommt.
Außer man hat Adressen, wo man gut läuft.“
Wo läuft welcher Typ Frau?
In den ersten Jahren war Blum noch oft nach Freiburg
gekommen, meistens an Wochenenden. Sie traf Freundinnen
und manchen sagte sie auch, womit sie ihr Geld verdiente.
Darüber zu sprechen war ein bisschen heikel, aber nicht
unmöglich. Nur wenn man mal hier ist und mal da, wenn man
mal viel zu tun hat und mal wenig, dann wird aus der
Heimatstadt irgendwann ein Ort unter vielen. Sie verlor
ihre Freundinnen, wie man eine Geldbörse oder einen
Schlüssel verliert, einfach so.
Die anderen Prostituierten waren wie sie: manchmal
freundlich, manchmal pleite, aber immer auf der
Durchreise. Es war nicht unangenehm, eben eine Atmosphäre,
wie sie unter Arbeitskollegen nun mal vorkommt: Mal wurde
gelacht oder sogar gemeinsam gekocht, oft ging Blum mit
anderen Frauen gemeinsam zum Frauenarzt – und immer und
immer wieder gab es diese Fragen, wo man gerade herkomme,
wie es da laufe, wo man hinwolle. Wo gibt es etwas zu
verdienen, in welcher Stadt läuft welcher Typ Frau? „Zu
glauben, dass man in den Häusern eine Freundin findet, ist
Unsinn“, sagt Ines Blum.
Sie kann nicht mehr sagen, wo auf ihrer jahrelangen
Durchreise sie begann, sich zu verlieren. Man kann auch
nicht sagen, dass ihr Leben und ihre Arbeit allein dafür
verantwortlich wären, dafür gibt es zu viele
Prostituierte, denen es nicht so geht. Aber irgendwann
geriet sie an den falschen Mann, er brachte Gewalt und
Drogen in ihr Leben, und aus ihrer unsteten Existenz wurde
nun eine, in der immer schnell Geld gebraucht wurde.
Schnelles Geld ohne Kompromisse, das ging nur auf dem
Straßenstrich – so lange, bis bei ihr nichts mehr ging.
Vor zwei Jahren las sie in einem Stadtmagazin die Anzeige
einer Ausstiegsberatung, ein Jahr dauerte es dann noch,
bis sie das Milieu hinter sich gelassen hatte.
Wenn man über Prostituierte redet und ihre Situation, dann
redet man oft über Ausbeutung und über Macht. Begriffe wie
„Zuhälter“ und „Menschenschmuggler“ bestimmen die
Debatten. Sicher gibt es Frauen, die auf diese Weise ins
Geschäft kommen und darin kaputtgehen. Sieht man aber von
der letzten Episode in ihrer Prostituiertenlaufbahn ab,
war die einzige Macht, der Ines Blum sich fügen musste,
die von Angebot und Nachfrage. Es war ein ganz banales
Prinzip, das sie von Stadt zu Stadt schickte, von Club zu
Club, immer weiter heraus aus sozialen Bindungen. Sie
lebte das Leben einer Wanderarbeiterin, und so fasst sie
es auch auf: Sex spielt in ihren Erzählungen kaum eine
Rolle. Als wenn es darum gegangen wäre. „Prostitution hat
es doch schon immer gegeben. Solange sich die Parteien
nicht schaden, ist alles in Ordnung.“ Mehr ist es für sie
nicht.
Derzeit arbeitet sie in einer Gärtnerei in Freiburg, noch
ist das kein richtiger Job, sondern Teil eines
Integrationsprojektes. Sie will lernen, wie das ist, einen
anderen Beruf zu haben als Prostitution. Eine Therapie hat
sie schon abgeschlossen. „Ich habe erst dadurch erkannt,
wie sehr die Prostitution mein Leben bestimmt hat. Mit
meinem Auto und Bargeld durch das Land zu ziehen, das habe
ich für normal gehalten“, sagt sie. Jetzt will sie nur
noch eines: irgendwo ankommen.