Sebastian_Stoll


 

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Immer auf der Durchreise

Ines Blum war mehr als zehn Jahre als Prostituierte
unterwegs. Kurz vor dem Zusammenbruch
stieg sie aus
.


Der Freitag, 25.06.2015



Es war der Koffer, der Ines Blum bewusst machte, wie einsam sie eigentlich war. Sie hatte ihn immer dabei, wenn sie bei ihren Eltern zu Besuch war, und nie wurde ein Wort darüber verloren. Es war ein Koffer, den es eigentlich nicht gab. Ein Koffer voller Dessous. „Ich bin mir sicher, dass meine Mutter wusste, was darin ist. Aber gesagt hat sie nie etwas.“ Irgendwann fuhr sie dann wieder und nahm den Koffer mit. Zum nächsten Job als Messe-Hostess. So hatte sie es ihren Eltern erzählt und so musste es sein. Also war es auch so.

Mehr als ein Jahrzehnt lebte Ines Blum, die eigentlich anders heißt, mit diesem Koffer. Sie schaffte ihn sich an, als sie 17 war. Vor einem Jahr hörte sie auf, als Prostituierte zu arbeiten – mit fast 30. In all den Jahren besaß sie nicht mehr als einen roten Ford Ka und eine wechselnde Menge Bargeld. Sie zog von Stadt zu Stadt, blieb niemals lange und hatte am Ende weder Freunde, noch wusste sie, dass es ein Leben ohne roten Ford Ka geben kann. Es gibt in Ines Blums Geschichte keinen Zuhälter, keine Gewalt, niemanden, der ihr Druck machte – nur Umstände, in denen sie sich verlor. Weil das Geschäft so ist, wie es ist. Und eben nicht, wie man sich das vorstellt.

Frischfleisch

Zu ihrem Beruf kam sie so, wie andere Leute zu anderen Berufen kommen: Die Schule war vorbei, das Konto leer – und die beste Freundin hatte eine Freundin, die da einen guten Job hatte. Zehntausend Mark im Monat machte sie. „Also haben wir uns ein Anzeigenblatt gekauft.“ Eine Begleitagentur suchte attraktive junge Frauen, gut frisiert sollten sie noch sein, das war es, keine weiteren Fragen. Sie und ihre Freundin trafen sich mit einem freundlichen Mann im Anzug, nach dem Kaffee zeigte er ihnen die Wohnungen, in denen sie arbeiten würden, sauber, Whirlpool, warum nicht? „Ich habe einen Kunden, der ist immer auf was Neues aus“, sagte der Mann. Den ersten Termin durften sie zu zweit machen.

Es ist schwierig, mit Ines Blum ins Gespräch zu kommen. Sie ist erkennbar ein Mensch, der einen Platz im Leben sucht. Sie hat ein Handy, an das sie manchmal geht, oft auch nicht. Und sie ändert bei Verabredungen, die sie zugesagt hat, auch mal schnell wieder ihre Meinung.

Wie es war, das erste Mal als Prostituierte, darüber erzählt sie nicht viel. Der Kunde sei sehr freundlich gewesen, habe sie umgarnt und umschwärmt. „Ab und zu hat er von ‚Frischfleisch‘ geredet“, sagt sie – in einem Ton, den man hat, wenn man über den Spleen eines anderen Menschen redet. Nichts, was man ernst nehmen müsste. Für die volle Stunde gab es damals 190 Mark, sehr bald kam sie auf 1.500 Mark oder mehr in der Woche. „Ich fand das toll, nebenher etwas zu machen, von dem keiner weiß – und das Geld natürlich auch“, sagt sie.

So ging das ein paar Monate, Ines Blum hatte ihre Kollegin aus der Schulzeit und arbeitete in ihrer Heimatstadt Freiburg, alles war aufregend und sicher zugleich – doch dann ging ein Wasserrohr kaputt, und mit ihm der Begleitservice. Nicht sofort, aber es war schnell absehbar, dass sich die Agentur nicht mehr lange würde halten können: Wegen des Wasserschadens musste der Betreiber eine Wohnung schließen, was an Geld blieb, war ihm zu wenig, um weiterzumachen. Eine Bekannte aus dem Milieu riet Blum dann: „So wie du aussiehst, würdest du zum Pferderennen in Iffezheim passen.“ Iffezheim, das war Baden-Baden. Dort gab es ein Laufhaus, ein großes Bordell mit weiten Gängen, in dem Prostituierte auf eigene Rechnung arbeiten. Sie besorgte sich die Telefonnummer und rief an.

Es war ein völlig anderes Leben, als sie es gekannt hatte. Sie war nun ihr eigener Chef, zu sagen hatte sie trotzdem nicht viel: Die Preise wurden durch das Laufhaus festgesetzt, je nach Dienstleistung konnte man eine Stunde mit ihr ab 50 Euro bekommen. Ines Blum lebte, wo sie arbeitete, und konnte selbst bestimmen, wann und wie oft sie das tun wollte. Theoretisch, die Tagesmiete von rund 100 Euro für das Zimmer wurde trotzdem immer fällig. Also arbeitete sie viel und fertigte die Kunden oft eher ab. Das ging drei Monate so, irgendwann wurden die Kunden weniger, 3.000 Euro in bar hatte sie zu der Zeit schon angespart. Sie kaufte den roten Ford Ka, 36.000 Kilometer auf dem Tacho, und zog weiter, nach Konstanz. Es war Oktober, und es war Messe.

Wie es dort war – es ist nicht wirklich wichtig, denn es war vor allem: kurz. Blum arbeitete von nun an nie länger als ein paar
Monate an einem Ort, oft nur ein paar Tage. Manchmal war sie in einem Club, mal Bardame, mal im Laufhaus – mal in Ingolstadt, mal in Darmstadt, mal in Mannheim. Das Schema, nach dem es lief, war immer das gleiche: Sie kam an einen Ort und hatte Mühe, Fuß zu fassen, unterzukommen, Kunden zu gewinnen. Irgendwann lief es dann gut. Und das hörte irgendwann auch wieder auf. Weil alles nach einer einzigen Regel funktionierte: „Wenn neue Frauen in ein Haus kommen, wollen die Kunden etwas Neues ausprobieren.“ Blum kam an einen Ort, war Frischfleisch, dann kam neues Frischfleisch, und sie zog weiter – dorthin, wo sie nun Frischfleisch war. „Es ist normal, dass man viel rumkommt. Außer man hat Adressen, wo man gut läuft.“

Wo läuft welcher Typ Frau?

In den ersten Jahren war Blum noch oft nach Freiburg gekommen, meistens an Wochenenden. Sie traf Freundinnen und manchen sagte sie auch, womit sie ihr Geld verdiente. Darüber zu sprechen war ein bisschen heikel, aber nicht unmöglich. Nur wenn man mal hier ist und mal da, wenn man mal viel zu tun hat und mal wenig, dann wird aus der Heimatstadt irgendwann ein Ort unter vielen. Sie verlor ihre Freundinnen, wie man eine Geldbörse oder einen Schlüssel verliert, einfach so.

Die anderen Prostituierten waren wie sie: manchmal freundlich, manchmal pleite, aber immer auf der Durchreise. Es war nicht unangenehm, eben eine Atmosphäre, wie sie unter Arbeitskollegen nun mal vorkommt: Mal wurde gelacht oder sogar gemeinsam gekocht, oft ging Blum mit anderen Frauen gemeinsam zum Frauenarzt – und immer und immer wieder gab es diese Fragen, wo man gerade herkomme, wie es da laufe, wo man hinwolle. Wo gibt es etwas zu verdienen, in welcher Stadt läuft welcher Typ Frau? „Zu glauben, dass man in den Häusern eine Freundin findet, ist Unsinn“, sagt Ines Blum.

Sie kann nicht mehr sagen, wo auf ihrer jahrelangen Durchreise sie begann, sich zu verlieren. Man kann auch nicht sagen, dass ihr Leben und ihre Arbeit allein dafür verantwortlich wären, dafür gibt es zu viele Prostituierte, denen es nicht so geht. Aber irgendwann geriet sie an den falschen Mann, er brachte Gewalt und Drogen in ihr Leben, und aus ihrer unsteten Existenz wurde nun eine, in der immer schnell Geld gebraucht wurde. Schnelles Geld ohne Kompromisse, das ging nur auf dem Straßenstrich – so lange, bis bei ihr nichts mehr ging. Vor zwei Jahren las sie in einem Stadtmagazin die Anzeige einer Ausstiegsberatung, ein Jahr dauerte es dann noch, bis sie das Milieu hinter sich gelassen hatte.

Wenn man über Prostituierte redet und ihre Situation, dann redet man oft über Ausbeutung und über Macht. Begriffe wie „Zuhälter“ und „Menschenschmuggler“ bestimmen die Debatten. Sicher gibt es Frauen, die auf diese Weise ins Geschäft kommen und darin kaputtgehen. Sieht man aber von der letzten Episode in ihrer Prostituiertenlaufbahn ab, war die einzige Macht, der Ines Blum sich fügen musste, die von Angebot und Nachfrage. Es war ein ganz banales Prinzip, das sie von Stadt zu Stadt schickte, von Club zu Club, immer weiter heraus aus sozialen Bindungen. Sie lebte das Leben einer Wanderarbeiterin, und so fasst sie es auch auf: Sex spielt in ihren Erzählungen kaum eine Rolle. Als wenn es darum gegangen wäre. „Prostitution hat es doch schon immer gegeben. Solange sich die Parteien nicht schaden, ist alles in Ordnung.“ Mehr ist es für sie nicht.

Derzeit arbeitet sie in einer Gärtnerei in Freiburg, noch ist das kein richtiger Job, sondern Teil eines Integrationsprojektes. Sie will lernen, wie das ist, einen anderen Beruf zu haben als Prostitution. Eine Therapie hat sie schon abgeschlossen. „Ich habe erst dadurch erkannt, wie sehr die Prostitution mein Leben bestimmt hat. Mit meinem Auto und Bargeld durch das Land zu ziehen, das habe ich für normal gehalten“, sagt sie. Jetzt will sie nur noch eines: irgendwo ankommen.
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