Sebastian_Stoll


 

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Der Lebenshelfer

Es gibt Menschen, die kommen nicht allein in dieser
Gesellschaft zurecht. Betreuer wie Klaus
Fournell kümmern sich um sie
.


Süddeutsche Zeitung, 03.05.2014


Erschienen in leicht gekürzter Fassung.


Klaus Fournell war nicht dabei, als es passierte. Aber es gab immerhin 27 Zeugen, allesamt Bewohner eines Mietshauses. Alle hörten sie, wie ein junger Mann mit blutigen Händen seltsame Dinge schrie. "Raus aus meinem Kopf" war einer der Sätze, die er in die Leere des Treppenhauses brüllte. "Ich mach’ euch alle fertig" ein anderer.

Das jedenfalls war es, was die Polizei später Klaus Fournell erzählte – und es ist auch der Grund, weshalb der junge Mann im Moment nicht mehr in seiner Wohnung lebt. "Mir blieb dann nichts anderes übrig, als beim Amtsgericht eine Unterbringung in einer psychiatrischen Anstalt zu beantragen", sagt er. Sie ist seit gut einem Vierteljahr Heimat des jungen Mannes, und sie wird es noch eine Weile bleiben. Darum kümmert sich Fournell.

Er darf das, denn er hat Macht über andere Leute, wie sie in Deutschland nur wenige haben. Fournell ist Berufsbetreuer, er regelt das Leben von zurzeit 30 Menschen, die das aus unterschiedlichen Gründen gerade selbst nicht können. Das heißt: Er darf über ihre Konten verfügen, bei ihren Geldgeschäften mitentscheiden, ihnen im Extremfall sogar die Freiheit nehmen. Das ist der eine Teil der Geschichte.

Der andere lautet: Eigentlich besteht sein Job darin, dafür zu sorgen, dass er all das nicht machen muss. Er soll mit den Menschen entscheiden, nicht über sie – und macht er es einmal doch, ist er für jeden Fehler persönlich haftbar. Er sagt: "Manchmal muss ich Sachen besser wissen als die Leute selbst."

Klaus Fournell, 53 Jahre, ist ein Mann mit kurzem weißem Haar, einem kleinen Bauch und einem riesigen Hometrainer im Flur. Wer sich auf den Weg in sein Büro nahe des Freiburger Hauptbahnhofs macht, findet sich unversehens in einer Privatwohnung wieder. Er bittet dann in sein Wohnzimmer, das auch erkennbar nach Wohnen aussieht: Mitten im Raum steht eine Gießkanne, in den Regalen "Lustige Taschenbücher" und Brettspiele für Kinder – und auf dem roten Flokati hat er ein paar geöffnete Akten abgelegt. "Ich habe hier auch ein Arbeitszimmer, aber Gäste empfange ich lieber im Wohnzimmer. Das ist gemütlicher."

Psychologisches Gutachten im Briefkasten

Am heutigen Vormittag hat Fournell einen Termin mit einem Klienten. Aber weil er bis dahin noch ein bisschen Zeit hat, geht er zum Briefkasten und kommt mit einem guten Dutzend Briefen wieder. Das ist wenig, an den meisten Tagen sind es um die 30. Heute sind Rechnungen dabei, Bescheide vom Jobcenter und zwei Briefe vom Gericht: Einer enthält ein psychologisches Gutachten, das ihm Recht gibt: Sein Klient in der Anstalt ist nach wie vor zu krank, um entlassen zu werden – außerdem sei es zu vertreten, ihm Medikamente zwangsweise zu verabreichen.

Im zweiten Brief geht es um Fournell selbst. Einer seiner Betreuten sei vorstellig geworden: Er bekomme seine Sozialhilfe plötzlich nicht mehr ausgezahlt, und sein Betreuer kümmere sich um gar nichts. Dazu solle dieser doch bitte Stellung nehmen. "Der Mann hat eine hohe Rentennachzahlung bekommen und nicht kapiert, dass ihm die auf seine Bezüge angerechnet wird", sagt Fournell, der die Rente selbst beantragt hat. Jetzt hat der Mann eine neue Küche, aber kein Geld mehr. Und schuld sind die anderen.

Dann klingelt es. Ein junger Mann mit kurzem braunen Haar setzt sich an den runden Tisch im Wohnzimmer. Sein Gang ist leicht unrund, er muss deswegen Spezialschuhe tragen. Das erkennt man nicht daran, wie diese aussehen – sondern an der Rechnung, die Fournell aus einem roten Aktenordner kramt. Er hat sie weitergeleitet bekommen, wie alle Post, die an seinen Klienten adressiert ist. 126 Euro will das Sanitätshaus für die Schuhe haben. "Nein, das habe ich nicht gewusst, dass ich dafür zahlen muss." Der junge Mann schaut verblüfft. "Machen Sie sich keine Sorgen. Ich habe inzwischen dort angerufen und eine Ratenzahlung vereinbart", sagt Fournell.

Bis Ende 1991 war es in Deutschland möglich, einen Menschen zu entmündigen. Wer eine psychische Krankheit hatte oder eine Behinderung, wer süchtig war oder dement, dem konnte ein Richter offiziell und sogar gegen seinen Willen einen Vormund zur Seite stellen. Dessen Entscheidungen hatte sich der sogenannte Mündel zu fügen.

Heute ist das anders: Menschen sind rechtlich sogar noch dann Herr ihrer selbst, wenn sie es tatsächlich schon gar nicht mehr sind. Statt von Vormündern bevormundet, werden sie von Betreuern betreut. Nichts darf gegen ihren Willen geschehen, auch nicht die Betreuung selbst – es sei denn, sie gefährden sich oder andere.

Aber wo verläuft die Grenze genau? Wann ist ein Betreuer verpflichtet, gegen den Willen eines Menschen zu handeln – und wann begeht er womöglich sogar ein Verbrechen, wenn er genau das tut? Das ist die Frage, die Fournell jeden Tag aufs Neue beantworten muss.

Er arbeitet erst seit gut zwei Jahren in dem Beruf, wie die meisten seiner gut 17 000 Kollegen als Selbstständiger. Je nach persönlicher Kassenlage bezahlen ihn seine Betreuten selbst oder aber das Land. Vorher war er 14 Jahre lang Sozialarbeiter in einem Obdachlosenheim. "Ich wollte etwas erfolgsorientierter arbeiten. Man hat hier kranke Menschen, die Unterstützung brauchen – und man kann ihnen jeden Tag helfen."

Wie etwa Marcello Schmidt, wie er an dieser Stelle heißen soll. Schmidt ist 29 Jahre alt und hat seit seiner Geburt eine Gehbehinderung. "Ich war große Teile meiner Kindheit im Krankenhaus", sagt er in schnellen, undeutlichen Worten. Dort habe er nur sporadisch Schulunterricht bekommen und deswegen Probleme mit dem Lesen. Und Schulden: Weil er unter Drogen Auto gefahren ist, muss er mehrere Tausend Euro Gerichtskosten abzahlen – dass er von Hartz IV lebt, hat dabei keine aufschiebende Wirkung. Und dann ist da noch die Sache mit der Bewährungsstrafe wegen Drogenhandels. "Mir ist das alles zu viel geworden. Ich habe mich nicht mal mehr getraut, die Post reinzuholen", sagt Schmidt. Irgendwann sei eine Sozialarbeiterin im Viertel auf seinen vollen Briefkasten aufmerksam geworden und habe ihm von den Möglichkeiten einer Betreuung erzählt. So kam er zu Fournell. Der regelt jetzt seine Finanzen und arbeitet die Post ab. "Seitdem habe ich mein Leben viel besser im Griff."

Nur noch Tuten aus dem Hörer

Plötzlich klingelt das Telefon. Eine empörte Stimme dringt aus der Leitung, sie sagt: "Ich verhungere." Es ist der Mann mit der Rentennachzahlung. Fournell erklärt ihm den Sachverhalt. Und dass er schon vor Tagen mit dem Amt geredet und um einen Vorschuss gebeten habe. "Der ist jetzt schon auf Ihrem Konto." Man hört ein tiefes Durchatmen, dann Stille. Fournell will noch einen Satz hinterherschieben, er setzt an: "Ich habe da heute einen Brief bekommen." Aber aus dem Hörer kommt nur noch ein Tuten.

Fournell achtet darauf, dass er jeden der Menschen, den er betreut, etwa einmal im Monat sieht. Diejenigen, denen er misstraut oder die ihm zu stark riechen, trifft er in ihren Wohnungen oder an neutralen Orten. Allen anderen schlägt er vor, sich in seinem eigenen Wohnzimmer zu treffen. "Das hat den Vorteil, dass man einfach weiterarbeiten kann, wenn ein Termin platzt."

Öfter muss man sich normalerweise nicht sehen, findet er, denn so viel Zeit braucht man nicht, um über Rechnungen zu reden, über Kontoführung oder Wohnheimplätze. Und um mehr geht es nicht. "Mein Job ist es nicht, eine Glühbirne reinzudrehen, sondern jemanden dafür zu organisieren", sagt er.

Am Ende des Termins fällt Marcello Schmidt noch ein, dass vor Kurzem es doch einmal ein Brief zu ihm nach Hause geschafft hat. Er hat ihn leider vergessen. "Aber das Wort Bewährung konnte ich lesen." Wahrscheinlich ist es ein angenehmer Brief, in ihm müsste mitgeteilt werden, dass die Bewährungsfrist zu Ende ist. Und wenn nicht? "Bringen Sie ihn das nächste Mal einfach mit", sagt Fournell.

Fournells Tag hat heute schon recht früh begonnen – er musste morgens ein kleines Wettrennen bestreiten: Einer seiner Klienten ist spielsüchtig, und heute gab es frisches Geld vom Amt. Geld, das entweder dazu geeignet wäre, Schulden bei Gericht abzutragen – oder aber dazu, in einem Automaten zu verschwinden. Fournell hat in dem Wettbewerb nur den zweiten Platz belegt. "Ich habe um sieben Uhr mal auf das Konto geschaut, da war noch nichts da. Als ich das nächste Mal nachgesehen habe, war schon alles weg." Anschließend hat er sich hingesetzt und einen Brief ans Amtsgericht geschrieben, mit dem er einen sogenannten Einwilligungsvorbehalt erwirken will.

Schafft er das, dann hätten nicht mehr beide gleichberechtigt Zugriff auf das Konto – sondern er, Fournell, könnte festlegen, ob und in welcher Höhe der Mann Geld abheben darf. "Ich schränke ihn damit massiv in seiner Freiheit ein, das weiß ich. Aber wenn ich es nicht mache, kommt er ins Gefängnis. Mit Sicherheit."

Trifft Fournell eine schwerwiegende und dann auch schwierige Entscheidung, kann er dafür heftigen Widerspruch erfahren. So war es im Fall des Mannes, den er in die Psychiatrie gebracht hat: Kliniken haben einen Sozialdienst, er hilft Menschen unter anderem beim Verfassen komplizierter Schriftstücke – und mit dieser Unterstützung beantragte der Patient vor Gericht, die Betreuung aufzuheben.

Eigentlich ist das juristisch kein Problem, weil Betreuungen in Deutschland ohnehin fast immer auf freiwilliger Basis zustande kommen – so auch diese.

Wie es in diesem konkreten Fall angefangen hatte, weiß Fournell allerdings nicht – er hat ihn von einem anderen Betreuer übernommen. "Das Gericht hat mich um eine Stellungnahme gebeten, und ich habe geantwortet, dass es meiner Meinung nach ohne Betreuung nicht geht." Also habe der Richter angedeutet, dass man in so einem Fall über eine Zwangsbetreuung nachdenken müsse. Daraufhin zog der Mann den Antrag zurück.

Es mag seine guten Gründe haben, warum dieser Mann nachgegeben hat und in der Psychiatrie bleibt – und doch verweist das Beispiel auf die Macht, die ein Betreuer hat. Sie wirkt sogar dann, wenn er sie gar nicht offen ausspielt. Gibt es so was wie Entmündigungen also doch noch? Ist es mit genügend krimineller Energie möglich, einen Menschen vollkommen zu entrechten? Fournell weiß, dass viele Menschen Vorbehalte haben, aber er kann es nicht ändern – allenfalls ein bisschen im Kleinen. "Ich handele immer transparent", sagt er. Das heißt für ihn: Er kann nicht von vorneherein versprechen, dass er nichts unternehmen wird, was seinen Klienten nicht gefällt. "Aber wenn ich etwas mache, dann kündige ich das immer vorher an." Fälle er eine schwerwiegende Entscheidung, dann nur, weil er keinen Handlungsspielraum habe. "Solange keine Gefahr für ihn und andere besteht, kann man noch über richtiges und falsches Handeln diskutieren."

Gefahr – das kann auch nur einfach Dreck heißen. Sofern der Begriff noch passt, um den Zustand angemessen zu beschreiben, in dem einer seiner Betreuten gelebt hat. Wenn Fournell zu ihm ging, roch er schon im Treppenhaus den Kot und den Urin, aufbewahrt in einem Eimer, den eine freundliche und naive Mitarbeiterin der Caritas ab und zu aus der Wohnung brachte – anstatt sich darum zu kümmern, dass einfach das defekte Klo repariert wird. Die Dusche funktionierte auch nicht, das Bett hatte schon viele Jahrzehnte überstanden. Überall lag Müll. Ungeziefer sah Klaus Fournell aber nicht. Er redete oft und lange auf den Mann ein – und unternahm sonst nichts. "Es gibt kein Gesetz, das sagt: Du darfst nicht im Dreck leben."

Das ist zumindest Fournells Meinung. Unter Betreuern gibt es in so einer Frage aber auch andere Ansichten. Eine Kollegin sagte ihm: "Klaus, ich hätte als Allererstes die Wohnung ausgeräumt. Der Mann ist krank, deswegen kann es auch gar nicht sein freier Wille sein, im Dreck zu leben." Ganz ähnlich lässt sich im Fall des Spielsüchtigen argumentieren, dem Fournell das Konto sperren will – allerdings erst jetzt, da eine Gefängnisstrafe droht. "Sonst hätte ich das nicht gemacht", sagt er. "Menschen brauchen auch eine negative Freiheit. Wenn jemand sich dafür entscheidet, ein paar Tage nichts zu essen, weil er lieber sein Geld in den Automaten wirft, dann ist das seine freie Wahl." Genau das ist sie nicht, argumentieren andere Betreuer, eben weil auch dieser Mann krank ist. Das Spiel ist nicht sein freier Wille, es ist eine Sucht.

Betreuung – ein Machtinstrument?

Aber was ist das eigentlich, der "freie Wille"? Betreuer sind verpflichtet, ihn zu achten und herauszufinden – das Problem ist nur, dass ihn niemand richtig definieren kann: mal besteht er in dem, was ein Betreuter sich wünscht, ein anderes Mal ist es das genaue Gegenteil davon, denn der Betreute ist ja krank. Weil kein Mensch so genau sagen kann, was den freien Willen ausmacht, lässt sich der Begriff auch als Machtinstrument einsetzen. Wer die Deutungshoheit hat, kann sie für sich nutzen: "Man muss sich das mal vorstellen: Das Gesetz lässt zu, dass einer meiner Betreuten mich als Erben einsetzt", sagt Fournell. Und wieso sollte das anfechtbar sein? Man hat es ja schwarz auf weiß, mit Unterschrift des Betreuten.

Manchmal aber gibt es Fälle, da ist der freie Wille so eindeutig, dass niemand etwas dagegen unternehmen kann. Das findet jedenfalls Fournell. Das gilt etwa für einen anderen seiner Klienten mit einer psychischen Erkrankung. Diese hatte sich zwar kein Stück gebessert – die finanzielle Situation aber war dank Fournell auf einmal wohlgeordnet. Also musste er gesund sein.

"Hohes Gericht, ich benötige keine Betreuung mehr. Meine Situation hat sich gebessert und ich erhalte auch viel mehr Unterstützung von meinen Eltern." Das in etwa war der Wortlaut des Briefes, mitformuliert hatte ihn Fournell. "Es war ganz klar, dass er bald wieder Probleme bekommen wird. Und zwar deswegen. Aber eine Gefahr für sich oder andere ist er deswegen nicht", sagt Fournell. Es wird dem Mann also bald schlecht gehen. Aber es ist sein – freier – Wille.
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