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Schuld und Sühne und Sühne

Neun Jahre lang saß Michael Willer im Gefängnis.  Jetzt ist er ein
freier Mann. Fühlt er sich auch frei? Wie lebt eigentlich
 einer, der so lange nicht am Leben teilnehmen durfte?


Berliner Zeitung 20.02.2017


Dass Michael Willer (Name geändert) zum letzten Mal etwas Festes gegessen hat, ist Jahre her. Heute ernährt er sich hauptsächlich von Nudeln, Brot schneidet er klein. Manchmal gibt es Nüsse – er püriert sie im Mixer. Wenn man ihn so ansieht, mit seinem milden Lächeln und den weiten blauen Augen, dann merkt man erst gar nicht, dass er keine Zähne mehr hat. Kein Wunder, er öffnet den Mund zum Sprechen immer nur ein bisschen. Dann sagt er Sachen wie „Ohne Zähne kann ich leben. Ich büße jetzt eben für mein Vorleben.“

Wenn man einen Menschen ins Gefängnis steckt, dann macht man das, um ihm etwas zu nehmen. Das ist der Deal: Du gibst uns ein paar Jahre deines Lebens, danach ist deine Schuld gesühnt. Aber wenn der Gefangene nach einigen Jahren rauskommt – bekommt er dann tatsächlich alles zurück, was man ihm genommen hat? Bezahlt er vielleicht nicht nur mit Zeit, sondern gibt es noch einen anderen Preis? Wie lebt eigentlich einer, der zuvor viele Jahre nicht leben durfte? Einer wie Michael Willer.

Man kann nicht sagen, dass Michael Willer sich darüber freut, seine Geschichte zu erzählen. „Machen Sie sich nichts vor. Mit Ihnen hat das nichts zu tun. Ich sitze hier, weil eine Bewährungshelferin viel für mich getan hat.“ Deswegen ist das Treffen auch nicht bei ihm zu Hause, sondern in den Räumen der Bewährungshilfe in einer Großstadt in Baden-Württemberg. Er muss keine Rechenschaft ablegen, das soll man wissen. Und dann redet er doch.

Mehrere Hundert Einbrüche

70 Jahre ist Michael Willer heute alt – seine Lebensleistung, das sind mehrere Hundert Einbrüche. Vielleicht 500, vielleicht 700, wer weiß das schon so genau? Er begann damit, als er 18 war und mit einem Freund von Süddeutschland aus nach Hamburg reiste. Das Geld dafür holten sie sich unterwegs; hier aus einer Firma, dort aus einem Bürogebäude. Nicht viel anders ging es die nächsten 40 Jahre weiter: Er fuhr oder lief ziellos durch die Gegend – wann immer er etwas fand, wo sich ein Einbruch lohnen könnte, stieg er ein paar Nächte später ein; mal alleine, mal mit einem Komplizen. Zur Tarnung arbeitete er als Buchhalter, jedenfalls die meiste Zeit. Freundinnen hatte er auch, immer wieder mal. Er weihte sie in sein Leben ein – ohne Details zu verraten. „Wenn man manchmal am frühen Morgen mit 40.000 oder 50.000 Mark nach Hause kommt, dann braucht man eben eine Erklärung.“ Kinder hat er nicht.

Es ist keineswegs so, dass Michael Willer mit seiner Arbeit immer Glück gehabt hätte: Mehrmals flog er auf, mehrmals musste er ins Gefängnis. Aber immer nur recht kurz, für ihn zählt das nicht. Der Bruch in seinem Leben ist im Jahr 2000, als ein früherer Komplize als Kronzeuge gegen ihn aussagte. Es kam damals einfach zu viel zusammen; zu viele Einbrüche, zu viele Vorstrafen – man verurteilte ihn zu neun Jahren Haft. Und er saß sie ab. „Einen einzigen Tag früher bin ich freigekommen. Mehr hat man mir nicht geschenkt.“ Seitdem ist er ein neuer Michael Willer: Nicht ein einziges Mal, sagt er, habe er seit seiner Entlassung ans Einbrechen gedacht.

Um zu verstehen, was für ein Mensch dieser neue Michael Willer ist und womit er seine Zeit verbringt, muss man einen kurzen Blick auf Michael Willer werfen, wie er sich verändert. Neun Jahre Gefängnis, das ist ein bisschen so, wie wenn eine Raupe sich einen Kokon spinnt und als Schmetterling herauskommt. Mit dem Unterschied, dass das Gefängnis einen alten, mittellosen Mann produzierte.

Kokon, das trifft es insofern ganz gut, weil sich diese Zeit eigentlich weniger durch bestimmte Ereignisse charakterisieren lässt als vielmehr durch deren Abwesenheit. Das sollte nicht überraschen, schließlich ist Isolation Teil einer Gefängnisstrafe. Doch die Anstalt vermittelte ihm immer auch eine Ahnung davon, was er verpasste: Der moderne Strafvollzug gestattet einem Häftling viele kleine Ausflüge in die Freiheit – aber immer, wenn Michael Willer ein Café von innen sah, dann nur mit Mithäftlingen am Nebentisch und Bewachern einen Tisch weiter.

Einmal unternahmen sie in der Gruppe einen Ausflug in die Weinberge. Einen ganzen Sommernachmittag lang naschten sie Trauben. Dann schloss sich die Tür wieder. „Warum hätte ich deswegen sentimental werden sollen? Ich wusste ja, warum ich im Gefängnis saß.“ So reagiert Michael Willer häufig: Er nimmt die Dinge hin.

Das Gefängnis, in dem Michael Willer den größten Teil der Zeit einsaß, war belegt mit überdurchschnittlich vielen Sexualstraftätern; so jedenfalls nahm er es wahr. Es ist nicht so, dass er mit einem dieser Häftlinge einen offenen Streit gehabt hätte oder ein anderes manifestes Problem. Er wollte nur all diese Menschen nicht sehen. Also verbrachte er die meiste Freizeit allein auf dem Innenhof und blickte ziellos in die Ferne.

Es gibt ein Ereignis, Michael Willer erzählt es ganz beiläufig, das eine Menge darüber aussagt, welche Kräfte in dem Kokon gewirkt haben müssen. Geschehen ist es an einem trägen Nachmittag, in einem tiefen Sessel, es beginnt mit einem Knirschen – jenem Moment, in dem Michael Willer feststellt, dass er seine Zähne fest zusammenpresst und sich mit den Händen an die Lehnen klammert. Bald schon presste er die Zähne auch nachts zusammen, schließlich fielen sie aus; einer nach dem anderen. „Ich habe keine Ahnung, warum ich das gemacht habe. Aber ich denke schon, dass es psychische Gründe hat.“

An einem Aprilmorgen nach neun Jahren packte Michael Willer seine Sachen und verließ das Gefängnis – für immer, wie er überzeugt ist. Er ging in ein Bahnhofscafé, bestellte Schinken mit Ei, anschließend kaufte er sich Pralinen und aß sie sofort. Er wusste: Dieser Moment gehört ganz alleine mir. Danach ging er zu seiner Mutter. Es gab keinen anderen Ort.

Nach einer Weile hatte ihm das Sozialamt eine neue Wohnung besorgt – sie war Michael Willer allerdings zu klein. Das kann man undankbar finden, er wiederum legt Wert auf die Feststellung, dass er keine Hilfe bei der Suche nach einer neuen bekommen habe. Er besorgte sie sich selbst, indem er regelmäßig bei einem Vermieter vorstellig wurde. „Vom Amt kriegen Sie nichts. Die sagen Ihnen nicht einmal, worauf Sie Anspruch haben“, sagt er. Man muss nicht im Gefängnis gesessen haben, um eine solche Erfahrung zu machen – allein, es macht die Sache nicht leichter.

Es mag sein, dass die Jahre in der Anstalt Michael Willer zum alten Mann gemacht hatten – zum Rentner wurde er dadurch nicht. Also erwarteten sie ihn alle paar Wochen beim Jobcenter, so sehr wie man eben einen Mann über 60 dort erwartet, der seit mehr als einem Jahrzehnt kein eigenes Geld mehr verdient hat. Einen Job bot ihm in all den Jahren niemand an, aber auch keinen Kaffee. Irgendwann ging er in Rente, seitdem lebt er von 404 Euro im Monat. Nun verlangt niemand mehr etwas von ihm. Besuch bekommt er selten.

Einfach nur in Ruhe lassen

Eines Abends allerdings standen zwei Polizisten bei Michael Willer vor der Haustür, er bat sie hinein. In der Region gebe es eine Einbruchserie, sagte einer von ihnen, also hätten sie beschlossen – und das müsse man verstehen –, einmal einen bekannten Einbrecher zu besuchen.

Michael Willer verstand das durchaus, trotzdem warf er die Besucher irgendwann hinaus. „Einer der Polizisten fing an, mich zu verspotten und wollte wissen, ob ich nicht lieber in einer Villa leben würde.“ Eine Provokation, sicher – und doch erzählt diese Anekdote eine Menge über Michael Willer: Alles, was das Gleichgewicht seines simplen und ärmlichen Lebens infrage stellt, das muss weg.

Andererseits: Was soll einer wie er denn auch unternehmen, um den Lauf der Dinge zu ändern? Wenn ein Mensch etwa seine Zähne verliert, dann hat er Anspruch auf eine Schiene. Auch Michael Willer lebte eine Weile damit, aber sie raubte ihm jeden Geschmackssinn – also nahm er sie wieder heraus. Kauen und breit lächeln, das könnte er jetzt erst wieder, wenn man ihm Prothesen machen würde, aber das will die Kasse nicht zahlen. Michael Willer hat sogar schon einmal dagegen vor einem Sozialgericht geklagt, aber ein Gutachter gab der Kasse recht. Nach Aktenlage, ohne den Kläger ein einziges Mal zu treffen.

Das ist der wahre Grund, weshalb Michael Willer heute ohne Zähne lebt. Nicht, weil er sich selbst verletzt hat oder weil er das für eine Form von Reue hielte. Sondern, weil man ihn in eine Welt entlassen hat, die nichts anderes kennt als Standardverfahren; und wer nicht in die Standards passt, verliert. Auch das ist eine Form von Buße.

Wenn die Möglichkeiten begrenzt sind, dann sind es auch die Freiheiten. Michael Willers größtes Glück sind seine Füße, jeden Tag tragen sie ihn zehn oder mehr Kilometer durch die Stadt. Manchmal betrachtet er in einem Juwelierladen Uhren, meistens isst er bei der Tafel zu Mittag – aber ein echtes Ziel, das hat er nicht. Es ist wie früher; mit dem Unterschied, dass er nicht mehr darauf achtet, wo er einbrechen könnte. „Das habe ich mir mühsam abtrainiert.“ Wenn er genug vom Laufen hat, weiß er, dass eine warme Wohnung auf ihn wartet. Am Abend schaltet er den Fernseher ein, den Ton aber aus. „Ich bin nicht verbittert. Vielen Menschen geht es schlechter als mir.“

Und er hat ja Recht. Man könnte jetzt fragen: Was ist eigentlich der Unterschied zwischen Michael Willer und einem Menschen, der von seinem Hartz-IV-Satz leben muss, ohne jemals im Gefängnis gewesen zu sein? Ist das, was Michael Willer heute erlebt, nicht einfach Armut, wie sie Millionen Andere auch erfahren? Die Antwort lautet: eben. Das ist die Art, wie wir als Gesellschaft strafen.

Eine Frage bliebe noch: Herr Willer, hatten Sie nicht gesagt, dass Sie dieses Interview aus Dankbarkeit für die Arbeit einer Bewährungshelferin geben? Und dann erzählen Sie stundenlang von einer Welt, in der niemand irgendwem hilft? Was genau hat diese Frau eigentlich für Sie getan? Michael Willer antwortet sofort. „Sie war einfach ehrlich zu mir. Gleich zu Anfang hat sie mir erklärt, dass sie mir weder Geld, noch eine Wohnung noch eine Rente beschaffen könne. Und sie hat mir keine Vorschriften gemacht. Deswegen konnten wir uns immer prima unterhalten.“ Jemanden in Ruhe lassen: In Michael Willers Welt ist das die höchste Form der Solidarität.

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