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Freiheit in Fesseln
Statt im Gefängnis lebt der Kleinkriminelle Stephan Groß mit einer elektronischen Fußfessel. Das Gerät macht ihn zu seinem eigenen Wärter. Berliner Zeitung / Frankfurter Rundschau, 31.01.2012 Manche
Leute kostet Zuspätkommen den Job. Stephan Groß (Name
geändert) kann es die Freiheit kosten. Jeden Morgen Punkt sechs
Uhr wird er im Betrieb erwartet. Um 5 Uhr 45 verlässt er das Haus,
vorher darf er nicht. Zu Fuß braucht er zehn Minuten. Das ist
knapp, aber zu schaffen. Auf dem Weg zur Arbeit schaut Stephan
Groß nicht nach links und nicht nach rechts. Er rennt nicht, aber
er geht schnell. Und er hält nicht an. „Der Weg zur Arbeit ist ja
auch nicht dazu da, um zwischendurch beim Bäcker vorbeizuschauen“,
sagt er.
Grund für diese Eile ist der kleine Begleiter, den Groß mit sich führt: Unter dem Saum des linken Hosenbeins trägt er einen rechteckiges Kästchen, nicht größer als ein MP3-Player, an dem normalerweise eine grüne Lampe leuchtet. Sollte Groß einmal vor 5 Uhr 45 das Haus verlassen oder um sechs noch nicht bei der Arbeit sein, leuchtet eine zweite Lampe rot und der Kasten vibriert. Ein Mitarbeiter einer Sicherheitsfirma wird dann einen stillen Alarm erhalten und Stephan Groß wird in der Justizvollzugsanstalt im schwäbischen Rottenburg anrufen müssen und sagen, dass er verschlafen hat. Dass alles in Ordnung ist. Tut er es nicht, holt ihn die Polizei. Interesse fürs Privatleben Denn eigentlich ist Stephan Groß ein Häftling. Dass er nicht im Gefängnis sitzt, sondern im Hausarrest lebt, verdankt er der elektronischen Fußfessel. Noch sind es nicht viele Menschen in Deutschland, die eine Weile mit so einem Gerät leben müssen, doch in Zeiten schrumpfender Etats ist es abzusehen, dass immer mehr Delinquenten diese kostensparende Variante des Strafvollzugs antreten. Auch bei der vom Bundesverfassungsgericht geforderten Neugestaltung der Sicherungsverwahrung wird die elektronische Fessel eingesetzt. Im hessischen Bad Vilbel wurde jetzt eine zentrale Überwachungsstelle in Betrieb genommen, in der gleichzeitig und bundesweit bis zu fünfhundert rückfallgefährdete Straftäter beobachtet werden können. Bei einem Pilotprojekt in Baden-Württemberg wird das System der elektronischen Fußfessel derzeit getestet. Einer der drei Dutzend Probanden dort ist Stephan Groß, ein junger Mann von 23 Jahren mit kurzem Haar, dünnem Bart und viel Temperament. Letzteres wurde ihm auf der Landstraße zum Verhängnis. Als ihn jemand von hinten mit der Lichthupe bedrängte, vollführte er eine Vollbremsung. Der Wagen hinter ihm kam noch rechtzeitig zum Stehen, doch das dritte Auto konnte nicht mehr bremsen. Bei dem Unfall gab es zum Glück nur ein paar Leichtverletzte. Groß wurde zu fünf Monaten Haft verurteilt. Am Ende wurden siebzehn daraus, weil das Gericht eine Bewährung widerrief. Er war wiederholt wegen Fahrens ohne Führerschein aufgefallen. Hausarrest von 16 Uhr 30 bis 5 Uhr 45 Stephan Groß sitzt am Tisch der kleinen Dachgeschosswohnung, die er gemeinsam mit seiner Freundin bewohnt. Wo sollte er auch sonst sein? Es ist spätnachmittags, und die Regeln, nach denen er lebt, sind klar: Von 6 bis 16 Uhr arbeitet er, eine halbe Stunde später muss er zu Hause sein – bis morgens um 5.45 Uhr. Eine Ausnahme gibt es am Wochenende, dann darf er sein, wo er will. Überwacht wird er aber auch in dieser Zeit von einer Firma, bei der er unter dem Namen TEV 30 registriert ist, und die von dem Gerät an seinem Knöchel permanent mit GPS-Daten versorgt wird. „Neustart“ heißt die gemeinnützige Organisation, die in Baden-Württemberg entscheiden darf, ob ein Strafgefangener dafür geeignet ist, eine elektronische Fußfessel zu tragen. Man schickte eine kleine, etwas korpulente Frau, die sich gemeinsam mit Stephan Groß seine Wohnung ansah und den Weg zur Arbeit abschritt. Sie interessierte sich sehr für sein Privatleben, wollte wissen, ob er gerne in Diskotheken gehe und bot ihm und seiner Freundin an, sich bei Beziehungsproblemen bei ihr zu melden. „Das ist nur ein Angebot. Nicht, dass sie Sie vor die Türe setzt“, sagte sie und lachte nicht. Später traf sich die Frau noch mit Stephan Groß’ Arbeitgeber. Eine Woche darauf saß er mit der Fußfessel bei sich zu Hause. Auch Roman Polanski hatte Fußfessel So selten die elektronische Fußfessel in Deutschland noch ist – so gebräuchlich ist sie in anderen Ländern. Zu ihren prominenten Trägern gehörte der Regisseur Roman Polanski, der in der Schweiz mit ihr leben musste, bis ein Gericht einen Auslieferungsantrag der USA zurückwies. Der ehemalige IWF-Chef Dominique Strauss-Kahn trug den Apparat nach seiner Festnahme wegen Vergewaltigungsvorwürfen in New York und auch das Hollywood-Starlet Lindsay Lohan wurde mit dem klobigen Accessoire bestraft. In den USA wird die Zahl derer, die eine Fußfessel tragen, auf über 100 000 Personen geschätzt. Verdächtige, Verurteilte und selbst Freigelassene sind mit dem Sender unterwegs. Ob Kleinkriminelle, Sexualstraftäter oder Alkoholiker, sie alle gehören zum potenziellen Kreis – denn neueste Varianten des Geräts können sogar erfassen, ob der Träger Alkohol getrunken hat. Auch in England kommt der Apparat flächendeckend zum Einsatz, ebenso in Schweden und Frankreich. Dort allerdings darf inzwischen niemand eine Fußfessel länger als sechs Monate tragen: Die Mauern sind unsichtbar, aber die Grenzen eng gesteckt. Eine Situation, mit der einige Klienten nicht mehr zurechtkamen. Sie klagten über psychische Probleme. Das ist ein Phänomen, mit dem sich auch der Modellversuch in Baden-Württemberg zu beschäftigen haben wird. Konzipiert hat das Projekt Rüdiger Wulf, er ist im dortigen Justizministerium der Referatsleiter Vollzugsgestaltung. Es sei elementar, einen Teilnehmer genau zu kennen, sagt er. „Es geht bei der Fußfessel ja auch darum, dass die Leute eine Tagesstruktur bekommen. Der richtige Umgang mit der Zeit ist für Straftäter sehr wichtig.“ Sei ein soziales Umfeld vorhanden, könne sich ein Mensch nach seiner Strafe leichter in sein Umfeld integrieren. Die Tücken der Technik „In welchen Rechtsgütern darf eine Gesellschaft denn normalerweise strafen?“, fragt Wulf und gibt gleich selbst die Antwort. „In Geld und in Freiheit.“ Geld würden viele nicht haben und eine Freiheitsstrafe könne entsozialisierend wirken. Bei der Fußfessel handele es sich dagegen weniger um eine Freiheits- denn um eine Freizeitstrafe. Freizeitstrafe, das klingt harmlos – Stephan Groß weiß, was das bedeutet. Er hat sich entschieden, seine Verurteilung gegenüber seinen Freunden geheim zu halten, zu groß ist seine Angst, ausgestoßen zu werden. Säße er ein, könnte er diese Entscheidung gar nicht treffen – so aber wird die Freizeit der anderen zur Strafe für ihn. Früher sei er mit seinen Freunden zum Bowling oder in die Kneipe gegangen. Wenn heute in der Woche das Telefon klingelt, sagt er, dass er keine Lust hat. Manchmal gibt es Fehlalarm. Die Technik ist noch nicht ganz ausgereift. Gerade in den ersten Wochen passierte es oft, dass der Sender an seinem Fuß auf dem Heimweg von der Arbeit den Empfänger des GPS-Signals verlor. Stephan Groß konnte sehen, wie die rote Lampe über dem Wort „Zonenverletzung“ leuchtete. Er sagt, dass er bestimmt schon zehnmal in der Justizvollzugsanstalt angerufen habe, um mitzuteilen, dass er zu Hause sei und nicht von der Polizei überprüft werden müsse. Sein eigener Wärter Stephan Groß lebt in einer Welt ohne Mauern, ohne Gitter und ohne Wärter. Die Freiheit, die er gewonnen hat, bedeutet aber auch ein größeres Maß an Verantwortung. Er selbst muss sich den Weg auf die andere Straßenseite verwehren, er errichtet seine eigenen Mauern und ist sein eigener Wärter. Das Gerät an seinem Bein erinnert ihn nur daran. Dieser Zwang zur Selbstkontrolle ist einer der Gründe, weshalb die elektronische Fußfessel von ihren Befürwortern gepriesen wird. Sie sehen das Gerät als dritten Weg; als Möglichkeit, Leute zu disziplinieren, für die beispielsweise eine Bewährungsstrafe nicht mehr in Frage kommt – die aber andererseits eigentlich nicht ins Gefängnis gehören. „Der elektronisch überwachte Hausarrest ist eine Form der Kontrolle, die die Leute in ihren sozialen Bezügen belässt“, sagt Rüdiger Wulf aus dem Justizministerium dazu. Zudem sei die Fessel eben wesentlich billiger als eine Gefängnisstrafe. Etwa 85 Euro am Tag kostet Wulf zufolge ein Strafgefangener die öffentlichen Kassen. Ein Fesselträger wäre schon für rund ein Drittel der Kosten zu bewachen . Was die Befürworter begeistert, macht den Kritikern gerade Sorge. Eben weil das Gerät so viel verheißt, könnte es inflationär zum Einsatz kommen, befürchtet die Freiburger Richterin Susanne Müller. „Wenn ein Gericht vor der Frage steht: Geben wir jemandem noch eine Chance zur Bewährung oder nicht?, dann könnte es durchaus einmal passieren, dass man sagt: Nein, du bekommst keine Bewährung. Du bekommst eine Fußfessel.“ Vor allem aber ist es der Kostenfaktor Fußfessel, der Susanne Müller stört. Es sei legitim, im Strafvollzug Geld sparen zu wollen, sagt sie. „Aber Strafgefangene brauchen eine umfassende Betreuung. Dazu gehört etwa ein Sozialarbeiter, der zur Verfügung steht, um Tagesabläufe besprechen zu können.“ Durch eine Bewährungsstrafe sei das viel besser gewährleistet. Beim Träger einer Fußfessel bestehe hingegen die Gefahr, dass dieser mit seiner Strafe alleingelassen werde – und mit der Fußfessel noch dazu. „Die psychischen Aspekte spielen eine große Rolle“, sagt die Richterin. Aufladen ist Pflicht Stephan Groß hat gerade ein ganz anderes Problem. Mitten im Gespräch steht er auf und steckt ein Ladegerät in die Steckdose. Es ist einer dieser klobigen, schwarzen Stecker, wie man sie aus seinem Alltag kennt. Eigentlich müsste sich am anderen Ende des Kabels ein Handy befinden oder ein Rasierapparat. Bei ihm endet das Kabel unterhalb seines Hosensaumes. Stephan Groß hat sich gerade selbst eingestöpselt und es gar nicht wirklich bemerkt. Darauf angesprochen, sagt er: „Eigentlich sollte der Akku bis zu zwanzig Stunden halten. Bei mir sind es aber immer nur zehn oder elf.“ Ist der Akku leer, leuchtet ein rotes Licht. Stephan Groß weiß dann, dass er ihn augenblicklich aufladen muss, alles andere wäre ein Verstoß gegen die Regeln. Sobald er nach Hause kommt, lädt er das Gerät auf, nach dem langen Tag auf der Arbeit ist es fast leer. Er stöpselt sich auch über Nacht ein, das reicht dann wieder bis zum Nachmittag. „Es ist ein Magnetkontakt“, sagt er. „Da kann gar nichts passieren.“ Fester Schlaf kann gefährlich werden Oder aber doch. Der Kontakt könnte sich im Schlaf lösen und Stephan Groß würde am nächsten Morgen bemerken, dass seine Fußfessel keinen Saft mehr hat. Oder, schlimmer noch, er würde es nicht bemerken und die Polizei träte in Aktion. Bisher ist das noch nie passiert . Die Fußfessel vibriert zwar auch dann, wenn der Akku fast leer ist. Doch Groß sagt, er schlafe gewöhnlich so fest, dass er das gar nicht spüren würde. Auch bei der Arbeit könnte es Probleme geben. Welchen Beruf er ausübt, will Groß nicht genau sagen, nur, dass es etwas mit Metall zu tun hat. Es muss jedenfalls eine Arbeit sein, bei der er sich unauffällig zurückziehen kann, falls der Akku doch mal leer ist. Sein Notfallplan sieht vor, den Apparat mehrmals kurz nachzuladen. Unterwegs nur mit vollem Akku Weil Stephan Groß bereits Freigänger war, bevor er in das Pilotprojekt aufgenommen wurde, genießt er Privilegien, die andere Fußfessel-Träger nicht haben. Das freie Wochenende gehört dazu. Von Freitagnachmittag bis Montagmorgen darf er machen, was er will. Allein, die Fußfessel ist immer dabei. Er kann sie ja nicht einfach ablegen. Zehn bis elf Stunden Akkulaufzeit, das ist auch an einem Samstag die Zeitspanne, in der das Leben passieren muss. Deshalb unternimmt Groß viel weniger, als es ihm eigentlich gestattet wäre. „Ich gehe nur aus, wenn der Akku ganz voll ist“, sagt er. Es ist sein Mantra. Sein Alltag – er glaubt, sein Ansehen – hängt davon ab, dass ein Elektrogerät so funktioniert, wie es soll. Ein paar Wochen wird Stephan Groß noch mit der Fessel leben müssen. Im Pilotprojekt ist ihr Einsatz auf ein halbes Jahr begrenzt. Am 9. April wird er von dem Apparat erlöst. Theoretisch wäre seine Haftstrafe dann noch nicht vorbei, praktisch könnte das zuständige Gericht die verbleibende Reststrafe aber zur Bewährung aussetzen. Darauf hofft er. Stephan Groß sagt, es mache ihn glücklich, mit seiner Freundin zusammenleben zu können und mit dem gemeinsamen Hund. „Die Zeit im Gefängnis war für mich eine Lehre.“ Zumindest diese Erkenntnis hat die Strafe befördert. Dann steht er auf und zieht den Stecker. |
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