Sebastian_Stoll


 

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Das kommt von Herzen

Wenn das Herz eines Menschen versagt, geht
es um Minuten.Wer einen Infarkt überlebt,
 ist ein anderer Mensch. Ein Leben lang.
Besuch bei Neugeborenen.



Dummy, Heft 14, Frühjahr 2007


Hinfallen kann jeder mal. Dachte sich Christine Klos und führte jahrelang ein Leben, wie es normaler nicht sein konnte. In dem nichts schlimmes passierte. Erst durchlief sie eine Ausbildung zur Zahnarzthelferin, dann schliff sie Gläser bei einer Firma für Augenoptik. Irgendwann heiratete sie. Zwei Kinder kamen, sie wurde Hausfrau. Manchmal stolperte sie. Einmal, da lag sie plötzlich neben dem Kinderwagen ihrer Tochter und wusste nicht, wie sie auf den Boden gekommen war. Das war vor Woolworth. Auf die Idee, dass die Bewusstseinsstörungen etwas mit ihrem Herzen zu tun haben könnten, kam sie nicht.

Es begann mit Übelkeit und einem unglaublichen Druck auf der Brust. Sie bekam kaum noch Luft. Das ging zwei Stunden so, irgendwann rief ihr Mann die Feuerwehr. Christine Klos bekam noch mit, dass man sie auf einer Trage aus der Wohnung schaffte, außerdem wunderte sie sich über den Rettungswagen, der aus der falschen Richtung der Einbahnstraße kam. Im Krankenhaus bemerkte sie noch einen Arzt auf dem Gang, dann sah sie nichts mehr, nur noch ein helles Licht. Und sie war umgeben von Wärme, einer unglaublichen Wärme, in der sie sich geborgen fühlte wie noch nie. Sie bekam nicht mehr mit, wie man sie ins Leben zurückholte; zweimal innerhalb von 30 Minuten.

Es war der Übereifer ihres Herzens, der Christine Klos fast das Leben kostet hätte: Rund 70 Mal in der Minute schlägt das Herz eines Erwachsenen, wenn er ruht. Das von Christine Klos raste: Die genaue Zahl weiß sie nicht, aber es werden bis zu zehnmal mehr Schläge gewesen sein. „Kammerflimmern“ heißt der Zustand, wenn das Herz eines Menschen so sehr beschleunigt, dass es kein Blut mehr in den Körper pumpen kann. Das einzige, was dann noch hilft, ist ein Elektroschock, der das Organ in seinen gewohnten Rhythmus zurückzwingt – andernfalls geht dem Gehirn der Sauerstoff aus. Menschen, bei denen Kammerflimmern einsetzt, verlieren meist nach wenigen Sekunden das Bewusstsein. Der Tod ist eine Sache von Minuten. Die Überlebenschancen liegen bei etwa zehn Prozent.

Christine Klos hatte Glück, dass das Kammerflimmern bei ihr erst im Krankenhaus einsetzte, wo man sie sofort behandeln konnte. Zuvor hatte sie nur Vorhofflimmern gehabt; eine schmerzhafte Herzrhythmusstörung, aber nicht unmittelbar lebensbedrohlich.

Christine Klos, heute 54 Jahre alt, ist eine üppige Frau, die schnell und viel redet – gerade, wenn es um ihr Herz geht. „Mir fehlen fünf Jahre meines Lebens“, sagt sie in leicht berlinerndem Ton und streicht sich über das zu einem Zopf geflochtene rote Haar. „Inzwischen weiß ich, dass man sich für seine Angst nicht schämen muss.“ Während sie das sagt, sitzt sie im grellen Neonlicht eines kargen Raums in Berlin-Spandau: An einer Wand hängen Deutschland-Karten, an einer anderen eine Tafel. In der Mitte steht ein großer, billiger Holztisch. Vor einer Stunde saßen hier noch die Mitglieder einer Defibrillatoren-Selbsthilfegruppe. Christine Klos hat die Gruppe gegründet und leitet sie noch heute.

Defibrillator. Kurz nachdem sie sich erholt hatte, hörte sie das Wort zum ersten Mal. Viel erklärten ihr die Ärzte nicht, aber sie wusste, dass man sie operieren und ihr eine Maschine unter den Brustkorb setzen würde. Ein Gerät, das ihr Stromstöße verpasst. 500 Volt stark. „Das war groß wie ein Pfund Butter“, sagt sie und zeichnet mit den Händen ein Pfund Butter in die Luft, das eigentlich zwei Kilo wiegen müsste. „Ich wollte das nicht. Es ging mir ja wieder gut.“

Auch als Christine Klos das Krankenhaus einige Wochen später verlassen konnte, ging es ihr gut: Sie freute sich, endlich wieder bei ihren Kindern zu sein und hatte keine Beschwerden mehr. Einen Schwerbehindertenausweis lehnte sie ab. Sie führte wieder ihr normales Leben, nur manchmal, da wurde ihr plötzlich schwindelig und sie bekam Panik.

Der erste Schlag kam ein Dreivierteljahr später. Er kam im Schlaf, morgens um fünf. War dumpf. Hob sie im Bett hoch. Sie war nicht darauf vorbereitet, denn keiner hatte ihr gesagt, wie er sich anfühlen würde. Später kamen die Schläge auch am Tag, unter anderem, wenn sie ihr Herz belastete.

Christine Klos wusste sich zu helfen: Wenn sie sich nicht überanstrengen würde, dann würden die Schläge vielleicht aufhören. Strapazierend war es zum Beispiel, wenn sie die Treppe im Hausflur herab- und später wieder herauflief. Also hörte sie auf damit. Sie schonte sich, wo es ging – das war sie sich wert. Manchmal schien es ihr zu riskant, das Essen zuzubereiten. Dann ließ sie auch das bleiben. Sie führte nun wieder ein Leben, in dem nichts schlimmes passierte. Genau genommen ein Leben, in dem gar nichts mehr passierte.

Fünf Jahre ihres Lebens verschenkte Christine Klos an die Depression; drei davon verbrachte sie fast komplett in ihrer Wohnung – nur einmal im Jahr zwang sie sich, mit der Familie in Urlaub zu fahren, außerdem musste sie vierteljährlich zur Untersuchung. Dann setzte sie sich in einen Rollstuhl, in dem ihr Mann sie in die Klinik brachte. Hin und wieder bekam sie einen Elektroschock. Sie brauchte Jahre, um Dinge neu zu lernen, die für andere Menschen selbstverständlich sind: Treppensteigen, Busfahren, Einkaufen auf dem Markt. Ihr krankes Herz diktierte den Rhythmus ihres Lebens.

Nichts hat soviel Macht über einen Menschen wie sein eigenes Herz: Etwa drei Milliarden Mal schlägt es im Verlauf eines Lebens – meist so zuverlässig, so exakt, dass sein unglaubliches Arbeitspensum nicht ins Bewusstsein vordringt. Doch wehe, das Herz wird ungehorsam; rast oder steht still: Dann geht es um Minuten und Sekunden, um Leben und Tod. Nur Menschen, die das erlebt haben, kennen das Organ wirklich.

Auch Rainer Eisl trägt einen Defibrillator. Wenn der kräftige Mann mit dem struppigen grauen Haar von dem Gegenstand redet, den er „Defi“ nennt, dann spricht er von seinem „Lebensretter“. Und sagt irgendwann mit ruhiger, fester Stimme: „Wollen Sie mal fühlen?“ Rainer Eisl, 64 Jahre, schiebt mit größter Selbstverständlichkeit seinen blauen Strickpullover zur Seite und präsentiert eine etwa zehn Zentimeter lange Narbe, die sich quer über seine linke Brust erstreckt. „Mit etwas Glück können Sie oberhalb der Narbe die Drähte fühlen, die durch den Brustkorb führen.“

Rainer Eisls Defibrillator ist ein Gerät der neueren Generation: klein, leicht und direkt unter der Haut – es funktioniert, ohne dass man ihm den Brustkorb öffnen musste. Das Grundprinzip eines Defibrillators ist jedoch noch immer dasselbe wie vor 20 Jahren – wie damals, als man anfing, die Geräte in menschliche Körper zu implantieren: Ein Defibrillator misst die Herzfrequenz. Wird eine bestimmte Ober- oder Untergrenze erreicht, gibt er einen starken Schlag ab – und sein Träger darf weiterleben. Die Zuverlässigkeit eines Defibrillators ist atemberaubend; sie liegt bei annähernd 100 Prozent. Manchen Trägern ist das Gerät aber zu fleißig, denn es kann zu Fehlzündungen kommen: Dann gibt der Defibrillator einen Schlag ab, ohne dass dies nötig gewesen wäre.

Rainer Eisl hat in sieben Jahren nur zwei Schocks bekommen. Andere Menschen erhalten ohne medizinischen Grund sieben Stromstöße nacheinander. Er hat Glück gehabt, das weiß er. Dennoch: Damals im Jahr 2000 ist mehr mit Rainer Eisl passiert, als dass man ihm einfach ein Stück Technik in den Körper gesteckt hätte. „Es wäre mir lieber gewesen, wenn ich ohne das alles zur Einsicht gekommen wäre.“ Rainer Eisl lehnt mit verschränkten Armen auf dem Konferenztisch einer Zweigstelle der Caritas. Während des Gesprächs ändert er selten seine Körperhaltung, auch sein Gesichtszüge bleiben ruhig.

Damals, im Jahr 1998, flog die Landschaft vorbei. Es passierte auf der Autobahn, irgendwo zwischen Berlin und der Ostsee; irgendwo auf halber Strecke zwischen Alltag und Urlaub. Jemand musste ihm einen Stahlring um die Brust gelegt haben und zog ihn nun immer enger. Es hatte ganz plötzlich begonnen und wurde nun immer stärker. „Aber Angst vor dem Tod hatte ich nicht. Nur davor, dass es immer schlimmer werden könnte – wie bei Zahnschmerzen.“ Rainer Eisl kehrte um und legte sich in sein Bett. Ernährte sich von Aspirin; vier Tage lang. Dann war alles in Ordnung. „Wäre ich ins Krankenhaus gegangen, hätte ich hinterher mit Sicherheit meinen Flugschein abgeben müssen.“ Dabei reiste er ja so gern um die Welt. Privat und geschäftlich: Jahrelang hatte er Diskotheken verkauft – wie andere Leute Versicherungen. Irgendjemand wollte eine Diskothek, sei es in der norddeutschen Provinz oder im syrischen Damaskus – Rainer Eisl stellte sie ihm hin.

Zwei Jahre vergingen. Es war ein Freitagabend, als ihm das nächste mal jemand einen Stahlring um die Brust legte. Diesmal war es schlimmer: Er fühlte sich unruhig, bekam schließlich Panik. Kalter Schweiß brach aus. Rainer Eisl suchte seinen Puls – und fühlte nichts. Er dachte: Es ist aus, das schaffst du nicht. Er rief seine Frau an, sagte ihr, sie solle möglichst schnell nach Hause kommen. Dann ein Gedanke. Er griff abermals zum Telefon: Liebe Nachbarn, könnt ihr kurz rüberkommen? Mir geht’s beschissen. Irgendwann wurde er ruhiger. Rainer Eisl legte sich auf sein Bett und wartete auf den Tod.

Wenn ein Herzinfarkt nicht behandelt wird, dann endet er in den meisten Fällen tödlich. Aber der Killer ist launisch und unzuverlässig: Ganz selten mal lässt er jemanden laufen. Einigen Glücklichen gibt er Stunden, in denen sie den Notarzt rufen können – andere rafft er in wenigen Minuten dahin. Sein Tempo hängt davon ab, welches der Blutgefäße am Herzen sich verschließt; welche Ader oder Vene so sehr verkalkt ist, dass nichts mehr durch sie hindurchkommt: Je größer das verschlossene Gefäß, desto weniger Blut erreicht den Herzmuskel. Das Gewebe ist dann unterversorgt und stirbt ab. Früher oder später ist zuviel von dem, was einmal ein Herz war, nur noch totes Fleisch. Dann gibt der Muskel auf: Infarktpatienten sterben an akutem Herzversagen oder an Kammerflimmern. An Kammerflimmern deshalb, weil die im Sinusknoten erzeugte körpereigene Elektrizität nicht mehr gleichmäßig fließen kann. Jede noch lebende Muskelfaser schlägt dann wie sie will.

Rainer Eisl erzählt nicht viel über den Film, der vor seinem geistigen Auge ablief und in dem es um sein Leben ging. Nur, dass ihm die Zeit viel länger vorgekommen sei, als sie vermutlich war – und dass es sehr schön gewesen sei. Zu diesem Zeitpunkt waren die Nachbarn schon mit einem Hammer gekommen und hatten die Glasscheibe der Eingangstür zerschlagen.

Heute lebt Rainer Eisl ohne Flugschein. „Nach dem Infarkt ist mir klar geworden: Ich habe im Leben alles gehabt. Es wurde Zeit, etwas zurückzugeben.“ Inzwischen arbeitet Rainer Eisl nur noch ehrenamtlich. Sterbebegleitung, für die Caritas. Ausgerechnet er, der schon so gut wie tot war. Rainer Eisl hat ein zweites Leben geschenkt bekommen – und widmet es dem Tod. „Im Moment betreue ich jemanden, der Speiseröhrenkrebs hat. Das ist ein langsamer Tod; völlig anders als bei mir.“

Seit seinem Herzinfarkt hat Rainer Eisl eine Neigung zum Kammerflimmern. Es ist einfach zuviel Gewebe abgestorben, als dass sein Herz wieder normal schlagen könnte – deswegen auch der Defibrillator. Doch trotz aller Zuverlässigkeit; auch die Möglichkeiten der Maschine sind begrenzt. Eines Tages wird sein krankes Herz nicht mehr können. Dann wird auch eine Serie von Stromstößen nicht mehr helfen. Rainer Eisl sagt, er würde gerne noch einige Jahre leben. Und wenn nicht? „Die Prognose für Herzkranke ist recht gut, denn sie sterben einen schönen Tod. Jemand legt einen Schalter um. Dann ist es vorbei.“ Rainer Eisl weiß das. Er hat es schon mal erlebt.

Wenn Jürgen Dreuw von Feuer spricht, dann brennt sein ganzer Körper: Die Augen leuchten, seine Sprache wird noch schneller, als sie ohnehin schon ist; das runde Gesicht färbt sich ein wenig rötlich. „Löschen macht Spaß! Man ist zwar ratschkaputt danach. Aber man hat was geleistet.“ Jürgen Dreuw ist einer jener Menschen, die immer schon einen Traumberuf hatten. Von Kindheitstagen an. Und doch war es ein langer Kampf, bis er endlich bei der Feuerwehr sein durfte. Jürgen Dreuw begann mit einer Ausbildung zum Autoelektriker. Da hätte er zur Feuerwehr kommen können, über eine Zusatzqualifikation – denn niemand wird einfach so Feuerwehrmann, man braucht eine abgeschlossene handwerkliche Ausbildung.

Irgendwann erschienenen ihm die Erfolgschancen zu gering, er gab auf und wurde Bäcker. Bis er eine Hintertür fand, im Werkschutz eines großen Chemiebetriebes. Werkschutz: Das heißt eigentlich Besucherempfang und Gebäudesicherung gegen Diebstahl. Aber es gab eine Weiterbildungsmöglichkeit: Im Beamtendeutsch heißt sie „geprüfte Werkschutzfachkraft mit Feuerwehrqualifikation“. Das ist das, was Jürgen Dreuw wurde. Vielmehr: Er wollte es werden. „Zwei Monate vor dem Ende meiner Ausbildung flog die Pumpe hoch.“ Da war er 29.

Als die Pumpe hochflog, war es Sonntagmorgen und Jürgen Dreuw band seine Schuhe zu – schon seit einigen Minuten: Das, was er im rechten Arm spürte, war vermutlich Muskelkater. Von der harte Schicht am Vorabend. Er redete mit seiner Freundin, gestikulierte und spürte den Muskelkater jetzt auch links. Er bückte sich, wollte die Schuhe nun tatsächlich zubinden. Das Messer kam von hinten und stach direkt in seine Lunge.

Jürgen Dreuw schleppte sich auf sein Bett und merkte erst dort, dass der Schmerz nicht aus dem Rücken kam, sondern aus der Brust. Das Stechen hatte aufgehört, es tat nun gleichmäßig weh: „Wenn man sich in den Finger sticht, ist das schmerzhafter. Es hat sich eher dumpf und vernichtend angefühlt.“ Keine fünf Minuten später war er im Krankenhaus: Seine Freundin fuhr ihn hin, nur wenige hundert Meter. Sie hatten grüne Welle. Sie waren nicht angeschnallt. Mit dem Rettungswagen hätte es viel länger gedauert, da ist er sich sicher. Hinterher sagte man ihm: Keine zehn Minuten später und er wäre tot gewesen.

Jürgen Dreuw kam trotzdem noch zu seiner Fahrt mit dem Rettungswagen. In der Klinik konnte man nur das nötigste tun, dann schickte man ihn direkt in ein besser ausgestattetes Krankenhaus im nahen Düsseldorf. Auf der Fahrt holten sie ihn zweimal zurück. Die Zeit, in der Jürgen Dreuw bei Bewusstsein war, starrte er an die Decke: Was wird jetzt aus mir? Im Krankenhaus versuchte er, mit dem Personal zu diskutieren: Der Blasenkatheter ist doch nicht nötig. Er beruhigte noch seinen herbeigerufenen Bruder, das Geburtstagskind: „Ich lege mich jetzt pennen und komme dann wieder.“ Sie schickten ihn ins künstliche Koma, damit der Kreislauf zur Ruhe kommen konnte; seine einzige Chance. Zwei Tage waren geplant, am Ende wurden es vier.

Es dauerte nur sechs Wochen, dann hatte er alles hinter sich: Intensivstation, Normalstation, Reha. Erstaunlich dafür, dass er fast gestorben wäre. Aber er war ja noch jung. Doch erst als alles vorbei war, ging es so richtig los: Wenn ein spannendes Fußballspiel im Fernsehen kam, dann ging er jetzt lieber spazieren. Es war zu aufregend.

Er saß jetzt viel auf dem Sofa rum, selbst Einkaufen war zu schwer. Sein Umfeld kümmerte sich um ihn; ständig wurde er gefragt, ob er denn auch seine Tabletten genommen habe. Die alten Kollegen waren voll im Saft. Wenn sie ihn besuchten, brachten sie ihm den Kaffee an den Platz. Er wurde schnell aggressiv, brüllte, wenn das Bett nicht gemacht war. Er, der vor kurzem noch Brände gelöscht hatte, war jetzt so gut wie erloschen, ein Invalide. Er saß zuhause rum. „Dieses Bemuttern geht einem schnell auf den Sack“, sagt Jürgen Dreuw.

Irgendwann setzte Jürgen Dreuw seinen Kampf fort – genauer gesagt führte er jetzt zwei Kämpfe: Den mit seinem Herzen und den um seinen Traumberuf. Jürgen Dreuw nahm ab, rauchte nicht mehr und trieb Sport, sobald das möglich war. Nach einem halben Jahr konnte er wieder arbeiten: An seiner alten Stelle, aber mit reduziertem Pensum und ohne Feuerwehreinsätze. Er nennt das „Krüppelbonus“ und muss dabei lachen. Im Jahr 2003, ein Jahr nach dem Infarkt, ließ er sich operieren: Körpereigene Stammzellen wurden in sein Herz transplantiert. Das brachte eine große Besserung. Er war wieder dran, das spürte er.

Was blieb, war die Hysterie – sie kam immer dann, wenn er an seinem Körper etwas bemerkte; und sei es die geringste Kleinigkeit. Jedes Mal, wenn er seinen Herzschlag fühlen konnte, fragte er sich, ob alles in Ordnung sei. Einmal war Jürgen Dreuw abends bei einem Arbeitskollegen und bekam Schmerzen in der Brust. Er ging er aufs Klo, fühlte seinen Puls. Alles ok. Zur Sicherheit ging er zum Arzt. Der fand nichts. Ein andermal, auf der Arbeit, kam er gerade vom Klo und fühlte sich plötzlich wie besoffen. Wie in Watte gepackt. Er ließ die Kaffeetasse fallen. Der Arzt  diagnostizierte einen Schlaganfall. Da war Jürgen Dreuw 33.

Heute ist er 34 und hat ein Bäuchlein, aber nur ein kleines. Wie so viele Menschen seines Alters. Nichts an seinem Aussehen unterscheidet den lebhaften Mann mit der hohen Stirn von einem lebhaften Mann mit hoher Stirn, der all das nicht erlebt hat. Nur gegen Ende des Gesprächs am Küchentisch hängt sein linker Mundwinkel ein klein wenig herunter; und er redet undeutlich. Wie immer, wenn er erschöpft ist. „Mit der Feuerwehr wird das nichts mehr, damit habe ich mich abgefunden. Wenn ich weiter einem unrealistischen Ziel hinterherjage, kommt zur Resignation auch noch Frust dazu.“ Immer langsamer kommen ihm seine Worte über die Lippen. Und doch redet er in einem Tempo, das so gar nicht zu dem Wort „Resignation“ passen will. Er lacht sehr viel. Und hört auch schnell wieder auf.

Jürgen Dreuw muss sich neu orientieren. Das Kochen macht ihm großen Spaß, im Moment verbringt er eine Menge Zeit in der Küche, vielleicht ist das eine Möglichkeit. Überhaupt sei er gemütlicher geworden, es gebe viel Zweisamkeit mit seiner Frau. „Natürlich ist das, was mir passiert ist, ungerecht. Andere Menschen werden 80 und sterben dann an einem Herzinfarkt oder einem Schlaganfall. Aber ich habe das Privileg, beides überlebt zu haben.“ Ein sonderbares Privileg. Aber er hat recht: Ein Privileg.

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