Sterben,
das mag das Ende der Welt sein oder vielleicht auch der
Übergang in eine andere – und doch ist das nur ein Teil
der Wahrheit. Bis in den letzten Moment hinein ist Sterben
auch: die Bewältigung des Alltags. Das Diesseits fordert,
es verlangt vom todkranken Menschen eine
Patientenverfügung, einen geregelten Nachlass oder auch
einfach nur, eine Suppe zu löffeln. Friedegard Ziegler ist
Sterbebegleiterin. Es ist ihre Aufgabe, Lösungen für das
Profane zu finden und die Angst vor dem Unfassbaren zu
lindern. Sie muss beides zusammenbringen, den Alltag und
das bevorstehende Ende, denn beim Sterben ist das manchmal
dasselbe.
Vor allem zuhören
63 Jahre ist Ziegler alt, eine stämmige Frau mit kurzen
rotgefärbten Locken und dunklem Teint. Vor fünf Jahren
begann sie für den Hospizdienst Hochrhein im südbadischen
Waldshut, Menschen zu besuchen, die nicht mehr lange zu
leben haben. „Nicht mehr lange“, das können ein paar Tage
sein oder länger als ein Jahr, gemein haben Zieglers
Klienten nur die Diagnose einer schweren Krankheit – und
das Wissen, dass es passieren wird. Zieglers Arbeit lässt
sich in zwei Sätzen beschreiben: Sie kommt regelmäßig zu
Besuch, redet mit den Kranken und ihren Angehörigen. Und
sie hört noch viel mehr zu. Ist ein Mensch gestorben,
besucht sie danach auch noch eine Weile seine Angehörigen
und hilft ihnen, ins Leben zurückzufinden.
Ziegler macht das ehrenamtlich. Bevor sie in Rente ging,
war sie Sozialarbeiterin. „Etwa 50 Begleitungen habe ich
bislang abgeschlossen“, sagt sie. Es klingt seltsam
positiv, wenn man sich vergegenwärtigt, was
„abgeschlossen“ eigentlich bedeutet – und auch ein
bisschen stolz. Aber: warum eigentlich nicht? Und was
sollte man stattdessen sagen?
Was das Sterben manchmal so schwierig macht, lässt sich
gut am Beispiel einer Haferflockensuppe illustrieren – der
Lieblingssuppe jenes Mannes, der kraftlos in seinem Bett
lag und schon nicht mehr schlucken konnte. Dünn war die
Brühe, die seine Frau für ihn gekocht hatte. Löffel für
Löffel schob sie ihm in den Mund, Löffel für Löffel lief
wieder hinaus. Am Ende schluckte er doch, ein- oder
zweimal. Ob sie die Suppe überhaupt kochen soll, darüber
hatte sie vorher mit Ziegler geredet. „Das gibt es ganz
oft, dass Angehörige denken: Ich möchte noch mal was Gutes
tun.“ Ziegler hat der Frau nicht zu- oder abgeraten, sie
hat ihr nur geholfen, sich überhaupt zu entscheiden. Nach
dem Essen sagte die Frau: „Ich habe ihm immerhin noch
einmal Haferflockensuppe gekocht.“
Die letzten Wochen oder Monate eines Menschen, die
Krankheit, die zum Tod führt – Ziegler hat dafür einen
eigenen Begriff: Es ist „ein Weg“. Sie hat ihn unterteilt
in vier Etappen. Leugnen, Aufbegehren, Einverständnis,
Abschied nehmen. Ihrer Überzeugung nach gehen nicht nur
die Sterbenden diesen Weg, sondern auch ihre Angehörigen,
aber in einem anderen Tempo: Wer nicht selber stirbt, kann
hinterher abschließen. Der Kranke hat diese Möglichkeit
nicht, er muss es vorher tun. Deswegen bedeutet
Sterbebegleitung oft auch, einen Streit zu schlichten. Wie
der Kranke haben seine Angehörigen Bedürfnisse, manchmal
laufen diese sich aber zuwider. Ziegler muss immer
abwägen. „Der Mann wollte die Suppe eigentlich nicht,
sondern nur in Ruhe gelassen werden.“
Irgendwann im Verlauf einer Sterbebegleitung gibt es einen
Moment, in dem Ziegler den Ehepartner zur Seite zieht, die
Tochter oder den Sohn. Immer, wenn es erkennbar schnell
bergab geht, bittet sie um den größten Gefallen, den ein
Angehöriger tun kann: „Du darfst gehen“, soll er sagen.
Oder: „Wenn du im Himmel bist, grüß’ mir Onkel Paul.“ Es
ist hart, diesen Satz auszusprechen. Es kann brutal sein,
aber es ist der Satz, der beide Seiten voneinander
befreit, der das Sterben leichter macht und das
Weiterleben.
Über den Tod selbst redet Ziegler nur selten. Sie findet,
dafür gebe es keine richtigen Worte. Lieber bringt sie
ihren Klienten Schmetterlinge mit. Kleine Schmetterlinge
aus Plastik und in vielen Farben, wie sie jetzt auch auf
dem Tisch des nüchternen Büros des Hospizdienstes liegen.
„Das steht für einen Entwicklungsprozess“, sagt sie. „Von
der Raupe zum Schmetterling.“ Oder: vom Leben zum Tod. Sie
deutet mit den Schmetterlingen den Tod an, mit ihnen ist
er nicht einfach das Ende, sondern das Ziel. Sie bringt
die Schmetterlinge allen Sterbenden mit. Manche gehen
darauf ein, andere nicht.
Wenn man sie fragt, warum sie Sterbebegleiterin geworden
ist, sagt sie, dass sie da ein bisschen reingeschlittert
sei: Sie war keine 60, als sie in Rente ging. Das erschien
ihr ein bisschen zu jung zum Nichtstun – und für eine
Sozialarbeiterin sei die Arbeit fachlich ja gar nicht so
weit entfernt von dem, was sie bis dahin gemacht habe.
Vielleicht geht es ihr aber auch noch um was anderes – um
das, worum es allen geht: keine Angst zu haben.
Acht Jahre alt war Zieglers Bruder, als man bei ihm
Leukämie diagnostizierte. Es gab eine Chance, ihn zu
retten, aber die Operation selbst war lebensgefährlich. Er
überstand den Eingriff. Acht Stunden lang. Das waren ein
oder zwei Stunden länger, als die Mutter am Krankenbett
ausgeharrt hatte. „Wäre ich nur dageblieben“, sagte sie
später immer wieder. Ziegler war elf Jahre alt. Sie hatte
keine weiteren Geschwister.
Ihre längste Begleitung dauerte anderthalb Jahre. Wie die
meisten begann sie mit einem kurzen Anruf. Das Krankenhaus
war der Ansicht, dass der Magenkrebs, gegen den eine
Patientin kämpfte, gewinnen würde und hatte der Frau die
Kontaktdaten des Hospizdienstes gegeben. So läuft es oft:
Jemand wird sterben, also bekommt er eine Telefonnummer.
Ziegler telefonierte nicht selbst, sie wurde hingeschickt.
Sie erinnert sich an eine Frau von ungefähr 50 Jahren, ein
eingefallenes Gesicht mit Brille, der Rest des Menschen
unter einer Decke verborgen – eine Frau, die sie jetzt
„Rosa“ nennt, auch wenn sie in Wirklichkeit ganz anders
hieß. Man kann nicht sagen, dass Rosa von ihrem Schicksal
überrascht gewesen wäre: Als Erstes wollte sie über ihre
Patientenverfügung sprechen. Keine lebensverlängernden
Maßnahmen, zu Hause sterben – ein Haufen Papier, den auch
Ehemann und Tochter unterschreiben mussten. Es dauerte
zwei Tage, hinterher ließ Rosa den Kopf in ihr Kissen
fallen und atmete tief aus.
Die Kranke tat, als wäre
nichts
Bald schickte man sie nach Hause, einmal in der Woche kam
Ziegler zu Besuch. Oder besser: Sie kam zum Kaffeetrinken.
Der Weg zur Kaffeemaschine dauerte ewig, immer, wenn Rosa
ihn bewältigt hatte, machte sie weiter, als wäre nichts
gewesen. Milch, Frau Ziegler? Zucker? Oder lieber nur ein
Wasser? Dann schritt sie langsam zurück und verschüttete
nichts. Anschließend erzählte sie, dass sie sich große
Sorgen um ihren Mann mache. „Wie soll er denn nur
weiterleben?“
Irgendwann gab es dann keinen Kaffee mehr. Es begann die
Zeit der ausgedehnten Bäder: Rosa schaffte es nicht mehr
alleine zur Wanne, aber wenn sie einmal drin saß, war sie
ganz in ihrem eigenen Reich. Und das konnte dauern.
„Kommen Sie lieber erst übermorgen. Morgen nehme ich ja
mein Bad“, hieß es oft, wenn Ziegler sich ankündigte. Wenn
Ziegler sie besuchte, sprachen sie über Rosas neuestes
Projekt, von dem beide wussten, dass es das letzte sein
würde: Einmal noch wollte sie ein Patchwork schneidern,
ein buntes Tuch aus verschiedenen Stoffen. Einfach an die
Nähmaschine stellen konnte sie sich nicht mehr. Wer musste
also helfen und was sollte er genau tun? Die beiden Frauen
redeten Stunden darüber, wie es funktionieren würde. Wie
es sein würde.
Am Ende schneiderte Rosa kein Patchwork. „Sie hat sich
dann entschieden, ihre ganze Kraft in eine Reise zu
stecken. Aber ich glaube, es war für sie wichtig, die
ganze Schneiderarbeit in Gedanken noch einmal
durchgegangen zu sein“, sagt Ziegler. Es war eine Reise in
ein warmes Land, die Rosa unternahm, für sie ein
Riesenprojekt – aber wohin genau sie fuhr, das kann
Ziegler nicht mehr sagen. Sie war in dieser Episode nur
Zaungast, Regie führten die Leute vom Pflegedienst.
Das Ende kündigte sich dann langsam an. Rosa bekam immer
stärkere Atemprobleme, einen dicken Bauch und dicke Beine
– Wasserablagerungen, zu denen der Krebs geführt hatte.
Bei Besuchen sagte Rosa nur noch „Hallo“ und „Tschüss“.
Ziegler sprach jetzt mit den Angehörigen über Milka-Herzen
und die Erlaubnis zum Sterben – dann fuhr sie in Urlaub.
In den Urlaub? Ja, sagt sie: „Meine Nähe zu den Patienten
ist nicht so groß, dass ich private Dinge deswegen
zurückstelle.“
An dem Tag, als Zieglers Mutter in ihrer Wohnung stürzte,
war sie 86. Zwölf Jahre ist das jetzt her. Die Ärzte
sagten, der Oberschenkelhalsbruch würde heilen. Auch
damals fuhr Ziegler in den Urlaub. „Ich hatte überlegt,
die Reise abzubrechen. Aber dann war ich der Meinung, ich
kann es machen.“ Die Wunde heilte nicht, es kam zu einer
Blutvergiftung, dann kam eine Lungenentzündung hinzu.
„Heute glaube ich, dass meine Mutter nur noch darauf
gewartet hat, dass ich wiederkomme“, sagt Ziegler.
Als sie in der Klinik ankam, lag die Mutter in einem
tiefen Schlaf. Das zumindest dachte Ziegler, trotzdem
sagte sie zu ihr: „Ich mag dich so gerne, ich habe dich so
lieb.“ Von ganz weit weg kam eine Antwort: „Ich habe dich
auch sehr lieb.“ Es war das letzte Gespräch. Am nächsten
Tag redete die Mutter nur noch ins Leere. Sie sagte: „Ich
muss ganz gehorsam sein.“
„Du darfst gehen“
Ein weiterer Tag verging, die Atmung hatte sich verändert.
Sie war ganz flach, kaum noch vorhanden. Außerdem hatte
man die Mutter nun in ein anderes Zimmer im Krankenhaus
gelegt, sie war jetzt allein. „Hier kommt heute kein
weiterer Patient mehr rein“, sagte die Schwester. Ziegler
sagte: „Ich bleibe.“ Die Nacht über hielt sie die Hand
ihrer Mutter und sang Lieder. Am Morgen um halb acht ein
Kinderlied. Es hieß: „Du darfst gehen.“
Nachdem es vorbei war, sah Ziegler nach draußen. Ein
schöner, sonniger Aprilmorgen. Sie öffnete das Fenster.
Etwas hatte sich verändert: „Seitdem habe ich keine Angst
mehr vor dem Tod.“
Als sie damals bei der Sterbebegleitung von Rosa aus dem
Urlaub zurückkehrte, war Rosa gestorben. Es war noch nicht
lange her, die Beerdigung stand noch bevor – Ziegler ging
hin. Das ist durchaus nicht ungewöhnlich: Oft wünschen
sich die Angehörigen, dass sie dabei ist und ihnen auch
Fachliteratur empfiehlt. Weil sie nun einmal da ist, als
Expertin fürs Sterben.
Normalerweise hält sich Friedegard Ziegler bei
Beerdigungen im Hintergrund und achtet darauf, nicht zu
sehr aufzufallen. Diesmal aber war es ein bisschen anders.
Sie setzte sich noch eine Weile zu Rosas Ehemann und ihrer
Tochter. Zum Kaffeetrinken.