Sebastian_Stoll


 

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Allein unter Freunden

Stephan Engelmann ist einer von anderthalb Millionen Deutschen,
 die regelmäßig im Internet Rollenspiele spielen. Er war
 zu erfolgreich, um aufzuhören. Er ging noch einmal
die Woche einkaufen, seinen Job gab er auf.


Der Tagesspiegel, 23.04.2008


Stephan Engelmanns* zweites Leben begann an einem Frühlingstag im Jahr 2006. Seine Freundin hatte sich gerade durch die letzte Prüfung ihres Jurastudiums gekämpft. Als sie die gemeinsame Wohnung betrat, fragte sie ihn: "Hat das Ganze noch einen Sinn?" Stephan Engelmann wusste, dass sie über ihre Beziehung sprach, er überlegte nicht lange. "Nein, ich sehe keine Chance mehr", sagte er. Dann setzte er sich wieder an den Rechner und stand nicht auf, bis die Nacht vor dem Fenster tief dunkel war.

"World of Warcraft" heißt das Computerspiel, mit dem Stephan Engelmann zwei Jahre verbrachte, kurz WoW. Es ist der Name jener Welt, aus der er nur zurückkehrte, um zu essen und zu schlafen. Er war dort ja nicht allein.

In Deutschland spielen etwa anderthalb Millionen Menschen Online-Rollenspiele wie "World of Warcraft", in dem die Teilnehmer über das Internet kommunizieren und zusammenarbeiten müssen, um Gegner erfolgreich zu bekämpfen. Riesige, grasgrüne Weiten finden sich im Spiel und unwirtliche Höhlen. Bildhübsche Frauen, Männer und bunte Fabelwesen - sowie scheußliche Monster, die man bekämpfen muss.

Das Abhängigkeitspotenzial ist groß. In der WoW-Parallelwelt geht es um archaische Dinge, um den Tod zum Beispiel, und um Macht. Die bekommt, wer lange spielt, eine Obergrenze, ein Spielende, gibt es nicht. Aber richtig erfolgreich wird nur, wer sich einer Spielergruppe anschließt - und möglichst häufig mit den anderen im Netz ist. Für die meisten Menschen hat das nicht mehr Folgen, als der Eintritt in einen Verein. Doch etwa 100 000 Deutsche spielen Online-Rollenspiele so exzessiv, dass sie zu keinem geregelten Leben mehr fähig sind, schätzt Klaus Wölfling, der Leiter der Online-Spielsucht-Ambulanz an der Uniklinik Mainz. Stephan Engelmann war einer von ihnen.

Als alles anfing, arbeitete er noch als Vermögensberater. Er traf sich mit Leuten, die Hunderttausende auf dem Konto hatten, Minimum, und sprach mit ihnen über Anlagemöglichkeiten und Versicherungen. Das war in Ordnung für ihn, bis sein Arbeitgeber die Firmenpolitik änderte. Maßgeblich war plötzlich nicht mehr nur die Höhe eines Vertragsabschlusses, sondern auch die Stückzahl. Also sprach Stephan Engelmann seine wohlhabenden Kunden jetzt auch auf Hundehaftpflichtversicherungen an und auf Kindersparbücher. Für ihn war es ein Abstieg, zumindest fühlte es sich so an. Manchmal verteilte er jetzt Lutscher.

Das war die Zeit, in der Stephan Engelmann sich an "World of Warcraft" erinnerte. Freunde hatten ihm die Spiele-Software schon vor Monaten geschenkt, besonders interessiert hatte er sich dafür nie. Jetzt fragte ihn ein Bekannter, ob er sich nicht einer "Gilde" anschließen wolle - einer Gemeinschaft von gut zwei Dutzend Spielern, die in der Welt von WoW zusammenarbeiten. Aus Stephan Engelmann wurde "Elogan", ein Krieger.

Elogan stieg schnell auf. Er sammelte Ausrüstungsgegenstände und tötete Monster, erst allein, bald in kleinen Teams. Nach einiger Zeit fragten ihn die Gildenmitglieder: "Kommst Du bald mit auf einen Raid?" Es war die Einladung zu einem Raubzug, einer Schlacht mit 25, manchmal gar 40 Teilnehmern, die auf einen Schlag äußerst viele Punkte bringen. Es dauerte nur wenige Wochen, dann war Elogan soweit. Es war nur ein Spiel. Aber eines, in dem es um etwas ging.

In der Vermögensberatung verlangten seine Vorgesetzten nun häufiger, dass Engelmann seinen Kunden unbedeutende Versicherungen verkaufte. "Ich fühle mich total verarscht!", antwortete er dann manchmal. Er hatte jetzt jeden Monat ein Personalgespräch, nicht wie früher einmal im Jahr und musste regelmäßig einen Arbeitsbericht abliefern. Die Kontrolle ging weit. Einmal rief ihn ein Vorgesetzter mitten im Kundengespräch an und fragte, wo denn der Bericht bleibe. Der Anruf kam nicht auf Engelmanns Handy, sondern auf der Festnetznummer des Kunden.

"Bei einem Raid ist es extrem wichtig, dass jeder seinen Job macht", sagt Stephan Engelmann. Er sitzt am Esstisch seiner geräumigen und blitzsauberen Wohnung im Speckgürtel von Stuttgart. Er ist 33, kräftig gebaut, trägt Schwarz und das dunkelblonde Haar kurz. Mit einem Kugelschreiber zeichnet er eine Skizze; genauer: einen Schlachtplan. Dabei redet er schnell und laut. Je mehr er zeichnet, desto schneller und lauter wird er. "Wenn einer nur denn kleinsten Fehler macht, dann sind vielleicht gleich vier Heiler weg und der Job kann vergessen werden."

Bei einem Raid, der Königsdisziplin im Spiel, geht es darum, einen Computer-Gegner zu besiegen. Das erfordert ein koordiniertes, ja fast soldatisches Vorgehen. Jede Spielfigur gehört einer bestimmten Klasse an, kann etwa Heiler sein oder Krieger und besitzt als solche bestimmte Fähigkeiten. Nur wenn jede Figur ihre Fähigkeiten optimal einsetzt, lässt sich der eigentlich übermächtige Gegner besiegen. Acht Stunden kann das dauern, manchmal zwölf. "Wenn man den Gegner besiegt, dann ist es so, als wenn deine Fußballmannschaft gerade den entscheidenden Elfmeter verwandelt", sagt Stephan Engelmann. "Wir haben dann immer Jubelschreie in unser Textfeld getippt."

Früher ging Stephan Engelmann zum einkaufen erst zum Türken um die Ecke, dann zu Tengelmann, zum Bäcker, am Ende noch zu Lidl. Jetzt hetzte er in einer Stunde durch den Kaufland, und kochte hinterher einen Eintopf oder einen Auflauf - in Mengen, die drei Tage reichten. Manchmal sagte seine Freundin: "Du unternimmst nichts mehr mit mir." Dann nahm er sich frei, sah aber schon in den Stunden vorher die Zeit herunter ticken. "Gleich muss ich mit ihr ausgehen", dachte er dann. Er meinte es nicht böse, er hatte einfach keine Zeit.

Eines Nachts um drei traf Elogan auf einen fremden Charakter, freundete sich mit ihm an. Erst später bemerkte er, dass der neue Freund Mitglied einer der erfolgreichsten Gilden im ganzen Spiel war. Der sagte: "Du spielst ja eigentlich ganz schön gut. Sag mal: Wir sind zu viele Leute und wollen uns in zwei Gruppen aufteilen. Hast du nicht Lust, die andere zu leiten?" Elogan überlegte nicht lange. Über eine solche Beförderung beschwert man sich nicht. Zumindest dann, wenn man von seinem Chef gerade degradiert wurde.

Mit seiner Freundin hatte Stephan Engelmann inzwischen einen Kompromiss gefunden, ganz ohne Worte: Sie saß den Tag über im Wohnzimmer und lernte für ihre Prüfungen, er spielte solange im Nebenraum. Trafen sie sich, schlichen sie aneinander vorbei. Nach ihrer letzten Prüfung, einigten sie sich: Es war vorbei.

Das Ende der Beziehung war auch das Ende der Zeit. Bis dahin hatte Stephan Engelmann in einer Welt gelebt, in der man morgens aufstand und am Abend ins Bett ging. Elogan aber brauchte keinen Schlaf. Obwohl es nachts auch in der Welt von WoW dunkel wird, sind Ruhepausen nicht vorgesehen. Tag und Nacht, das heißt: hell und dunkel, nicht wach oder schlafend.

Mit seinem Arbeitgeber einigte sich Stephan Engelmann auf einen Auflösungsvertrag. Er wurde freigestellt. Und so streifte Elogan manchmal acht Stunden am Stück durch die Spielwelt von WoW und kämpfte gegen Monster, die immer ein bisschen Gold dabei hatten. Elogan brauchte das Gold, denn mit ihm konnte er sich Heiltränke kaufen. Er brauchte die Tränke dringend, denn sie gaben Elogan Kraft - für weitere Kämpfe.

Mit Anfang Dreißig gründen viele Männer eine Familie. Irgendwie stimmte das auch für Stephan Engelmann: Er musste jetzt für zwei sorgen.

Manchmal half alles nichts, dann kam es zu Situationen, die "afk" waren; afk - das waren nicht nur Buchstaben, die er in die Tastatur tippte, "afk" war ein Fluch, der seine Welt plötzlich in zwei Teile zerhackte. "Away from keyboard" - weg von der Tastatur, das hieß: Toilette, Eintopf, Aufbackbrötchen. Und wenn Stephan Engelmann einmal in der Woche seine Gefriertruhe füllte, dann war das nicht mehr Einkaufen, sondern "afk". Er fand Wege, diesen Zeitraum zu begrenzen. Meistens verließ er seinen Rechner am Dienstagvormittag, dann gab es im Lidl keine Schlangen. An solchen Tagen spielte er weniger als sonst, höchstens 14 Stunden.

Wenn Stephan Engelmann in den Spiegel schaute, sah er einen jungen Mann, der rasiert und ordentlich frisiert war. Er ließ sich nicht gehen. Nur die roten Augen, die wurde er nicht los: "Schlafmangel", hatte ihm sein Arzt erklärt. Dazu kamen diese Infektionen, die ihn jetzt andauernd heimsuchten. Oder der hohe Blutdruck. "Als nächstes erwarte ich einen Herzinfarkt", hatte der Arzt noch gesagt. Stephan Engelmann fand, dass er dafür noch ganz gut aussah, irgendwie.

Eigentlich war es wieder wie früher. Zu Schulzeiten war Stephan Engelmann einer von denen gewesen, die von Donnerstag- bis Montagabend auf Tour gingen, Freunde treffen. Im Lauf der Jahre war er häuslicher geworden, wie seine alten Freunde auch. Jetzt ging er zwar nicht mehr aus - auf Tour war er mit seinen neuen Freunden aber permanent.

Er hatte Verantwortung, er war zum "Raidleiter" aufgestiegen. Wenn eine Schlacht anstand, verteilte er die Aufgaben. Manchmal musste er da auch an die Welt draußen denken: Dort gab es zum Beispiel Staus, die seine Gildenmitglieder von der Tastatur fernhielten. Also gab er jedem seine Handynummer. Doch es half nicht immer. Ein Krieger, der in der Welt draußen eine Firma leitete, verspätete sich häufig. "Was passiert eigentlich, wenn bei dir im Betrieb jemand zu spät kommt?", fragte Elogan schließlich. "Das passiert nur einmal. Da gibt es gleich eine Abmahnung", lautete die Antwort. "Siehst Du. Und die hattest Du schon", sagte Elogan. Er warf ihn raus.

"Es baut sich Gruppendruck auf", sagt Klaus Wölfling von der Online-Spielsucht-Ambulanz, die erst vor wenigen Wochen eröffnet wurde. In ihr lassen sich auch Süchtige behandeln, die wie Engelmann in der Situation sind, dass gerade die Zugehörigkeit zu einer Gruppe zur Vereinsamung im realen Leben geführt hat. Noch ist Online-Sucht nicht offiziell als Krankheit anerkannt, auch wenn das Anfang April Experten bei einer Anhörung im Bundestag forderten - ebenso wie Warnhinweise auf den Spielpackungen, ähnlich wie auf Zigaretten.

Stephan Engelmann weiß nicht, ob die ihn davon abgehalten hätten, sein Leben für das von Elogan einzutauschen. Er hat inzwischen eine neue Arbeit gefunden. Er will sie behalten. Und so versucht er jetzt dauerhaft "afk" zu bleiben. Dieses Kribbeln hat ihn aber nicht verlassen. Denn in der Welt von WoW hat Elogan etwas wunderbares bekommen. Den mächtigsten, den schlagkräftigsten Hammer, den es im ganzen Spiel gibt. Er hat ihn nur, weil alle anderen sich für ihn eingesetzt haben: Nachdem er angekündigt hatte, ihn schmieden zu wollen, fanden sich sofort Gildenmitglieder, die ihm Rohstoffe liehen. Es reichte nicht: Er brauchte noch mehr Rohstoffe, Gold, Monster. Also zogen sie gemeinsam los, alle nur für ihn. Manchmal waren sie lange unterwegs. Aber sie hörten erst auf, nachdem sie schließlich die erforderliche Anzahl an Monstern getötet hatten. Es waren 1500.

*Name geändert

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