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Bevor es zu spät ist

 
In der Präventionsambulanz im bayerischen Ansbach werden psychisch kranke
Risikopatienten behandelt, die zu Gewalttaten neigen. Seltsamerweise
hat es so etwas in Deutschland noch nie gegeben. Ein Modellversuch.



Berliner Zeitung / Frankfurter Rundschau, 04.07.2012


Er hatte abgewaschen und das Geschirr eingeräumt. Er hatte sich Mühe gegeben. Aber es reichte nicht. „Es ist hier immer noch dreckig. Und ich dachte, du räumst auf“, sagte seine Freundin, als sie nach Hause kam. „Hab’ ich doch“, war alles,was er entgegnen konnte. Sie schimpfte, wie unzuverlässig und unordentlich er sei. Sie hörte gar nicht mehr auf. Irgendwann schlug er dann zu. Erst mit der flachen Hand, dann mit der Faust – immer ins Gesicht. Als er das Blut sah, ließ er von ihr ab.

Marco Meier (Name geändert), 42 Jahre, sieht nicht aus wie einer, der gefährlich sein könnte. Freundlich und beflissen erzählt er von dem Streit mit seiner Freundin, dabei rutscht er unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Er ist ein kleiner Mann, aber muskulös, trägt ein Kopftuch und einen Flaum auf der Oberlippe. Seine Worte klingen harmloser als das,was er getan hat.„Bei uns hat es oft Auseinandersetzungen gegeben, die total unnötig
waren. Es kam dann auch zu Gewaltanwendung“, sagt er.

Marco Meier ist einer der ersten zwanzig Patienten der Präventionsambulanz im bayerischen Ansbach. Seit Februar gibt es diese Einrichtung, in der später einmal bis zu hundert Menschen gleichzeitig betreut werden sollen. Es ist ein in Deutschland einzigartiges Modellprojekt, obwohl die Idee dahinter so simpel klingt, dass mane ine Klinik wie diese eigentlich in jeder größeren Stadt vermutet: Psychisch Kranke mit einem sogenannten Risikoprofil kommen freiwillig hierher, in ein unscheinbares Nebengebäude der Bezirkskliniken Mittelfranken; Menschen, die schon mal gewalttätig geworden sind. Die Aufgabe der Ambulanz ist es, dafür zu sorgen, dass alles nicht noch schlimmer wird. Dass aus einem Schläger kein Mörder wird.

Ins Gedächtnis gebrannt


Wenn man Marco Meier fragt, was genau in seinem Leben schiefgelaufen ist, dann fällt ihm als erstes eine Geschichte aus seiner Kindheit ein. Es ist eine Szene, die sich ihm ins Gedächtnis gebrannt hat. Dreizehn Jahre war er damals alt, und sein Stiefvater war an diesem Tag betrunken.„Das Kind ist nicht von mir“, sagte der Stiefvater und zeigte auf Marco Meiers Schwester. Zwei Jahre war sie damals alt, leicht und zerbrechlich. Der Stiefvater packte das Kind und warf es die Treppe hinunter. „Meine Schwester war ein fröhliches Kind, das viel gespielt hat. Nach dem Sturz wurde sie verschlossen.“ Und auch mit ihm scheint an diesem Tag etwas geschehen zu sein.

„Schwere Persönlichkeitsstörung“ lautet die Diagnose,mit der Marco Meier lebt, sein Krankheitsbild äußert sich unter anderem darin, dass er seine Impulse nicht im Griff hat. Leute wie er gehören zur Klientel der Präventionsambulanz, ebenso solche, die unter schizophrenen Erkrankungen leiden. Menschen, die Stimmen hören, kommen ebenso in die Einrichtung wie solche, die glauben, sie würden schleichend vergiftet. Es ist der mögliche Samuraischwert-Mörder oder Amokläufer, an den man sich wendet, ausdrücklich nicht zur Zielgruppe gehören Sexualstraftäter: Für diese Menschen gibt es längst Angebote, etwa die Präventionsambulanz für pädophil veranlagte Männer in der Berliner Charité.

„Psychisch Kranke haben keine Lobby. Sexualstraftäter haben zumindest eine Negativlobby, die Leute wollen vor ihnen geschützt  werden. Aber die Menschen, um die wir uns kümmern, fallen oft einfach durch den Rost.“ Joachim Nitschke ist Chefarzt in der Präventionsambulanz, ein Mann mit spitzbübischem Lächeln und vollem blonden Haar. Dass ein Axtmörder bis zur Tat unentdeckt bleibt, das liegt für Nitschke vor allem daran, dass man ihn bis dahin schlicht nicht ernst nimmt, gerade weil die allermeisten Schizophrenie-Patienten völlig harmlos seien - dafür aber unangenehm, auch für viele Ärzte. „Das sind häufig Menschen, die sich nicht waschen und die auch nicht privatversichert sind.“ Da schaue dann auch ein Psychiater schnell mal nicht so genau hin. „Tatsächlich bekommen viele psychisch Kranke eine adäquate Behandlung erst in der Forensik“, sagt er. Dann also, wenn bereits etwas passiert ist.

Wenn etwas passiert, dann wird es bei der Klientel, die Nitschke im Blick hat, nicht selten gleich ganz furchtbar. Einen Monat ist es her, dass ein 32-jährigerMann aus Berlin-Kreuzberg seine Frau auf der Dachterrasse seiner Wohnung tötete und zerstückelte. Genau solche Bluttaten glauben die Verantwortlichen der Präventionsambulanz verhindern zu können. Dass man es zumindest auf einen Versuch ankommen lassen sollte, glaubt man auch bei der Opferschutzorganisation „Weißer Ring“. „Die Tatsache, dass viele Straftäter erst im Rahmen einer Verurteilung zu Therapien kommen, belegt doch eindeutig, dass in der Prävention zu wenig getan wird“, sagt deren Sprecher Veit Schiemann.„Wenn dem nicht so wäre, würden die Gerichte nicht so oft den Therapiebedarf feststellen.“

Wie man einen Patienten systematisch unterschätzt, das hat Chefarzt Joachim Nitschke auch oft schon persönlich erlebt. Bevor er zur Präventionsambulanz kam, arbeitete er in verschiedenen Krankenhäusern als Psychologe und Neurologe. Gut erinnert er sich etwa an eine Frühkonferenz in einem dieser Häuser, in der es Nachrichten von einem Patienten gab, den man gerade von einer geschlossenen auf eine offene Abteilung verlegt hatte – und von dem eigentlichnichts mehr zu befürchten war. Eigentlich. Auf einmal schlug er dort die Pfleger zusammen, warf mit Stühlen und nahm die Tische auseinander. Man konnte den Mann ruhigstellen, viel mehr geschah nicht. „Wenn etwas im Krankenhaus passiert, wird es so gut wie nie angezeigt. Also auch nicht dokumentiert“, sagt Nitschke. Mit anderen Worten: Das alles ist nie passiert. Und der Mann bleibt offiziell ungefährlich.

Auch Marco Meier weiß, wie es ist, wenn man mit etwas durchkommt. Das gilt etwa für die Sache auf dem Volksfest, die nach diesen Maßstäben genauso wenig passiert ist. Er ging damals noch zur Schule und hatte vielleicht ein bisschen viel für seine Verhältnisse getrunken – wie alle anderen in der Gruppe auch. „Deine Mutter ist eine Nutte“, sagte irgendwann ein Klassenkamerad. Das reichte für eine gebrochene Nase. Eine Anzeige gab es nicht.Warum auch? Selber schuld, irgendwie. Marco Meier sagt von sich, dass er in ähnlichen Situationen schon öfter Menschen Knochenbrüche zugefügt hätte. Folgenlos. Für ihn zumindest.

„Meine Familie hat mir oft gesagt, dass ich Probleme mit meinen Aggressionen hätte. Ich habe mir dann immer nur gedacht: ,Die wollen dir bloß was einreden’“, sagt Marco Meier.

Dass er überhaupt hier ist, liegt an seinem Neffen.
Stimmt, du hast keine Probleme mit Aggressionen“, sagte dieser irgendwann. „Ich kann dir das sogar auf Video
zeigen.“ Was genau auf dem Film zu sehen ist, will Marco Meier nicht sagen. Es geht um einen Streit, den er auf einer Geburtstagsfeier mit seinem Bruder hatte – und darum, dass er sich zum ersten Mal von außen sah. Er erblickte einen Mann, der völlig außer Kontrolle war. Damit hatte er nicht gerechnet. Später setzten sein Neffe und er sich ans Telefon und suchten nach Hilfsangeboten.

Nicht jeder Patient wird durch Einsicht in die Präventionsambulanz getrieben. Oft melden sich besorgte Angehörige oder Ärzte. Aber zum Kommen gezwungen wird niemand, dafür gibt es keine Rechtsgrundlage. Vor allem aber ist das auch gar nicht nötig, findet Chefarzt Joachim Nitschke. „Diese Menschen sind oft Außenseiter. Die sind froh, wenn sie jemanden finden, der Zeit für sie hat und sie ernst nimmt.“

Tatsächlich ist das Problem der Präventionsambulanz ein ganz anderes. Es geht nicht nur darum, Leute zu finden – es müssen auch die richtigen sein. Denn psychisch
krank, das heißt noch lange nicht: gefährlich. Belastbare Zahlen gebe es für den Bereich der Schizophrenie, sagt Nitschke. „95 Prozent dieser Leute sind völlig harmlos. Allerdings muss man berücksichtigen, dass ein Prozent der Gesamtbevölkerung an Schizophrenie leidet. Das ist eine Volkskrankheit.“ Fünf Prozent von einem Prozent – in einer mittelgroßen Stadt wie Ansbach mit ihren gut 40 000 Einwohnern bedeutet das zwanzig potenziell gefährliche Menschen. Hinzu kommen welche wie Marco Meier, die andere Störungen haben – und die Tatsache, dass die Präventionsambulanz nicht nur für die Stadt zuständig ist, sondern für einen Teil Mittelfrankens.

Für die Arbeit der Präventionsambulanz bedeutet das zunächst einmal, die richtigen Kandidaten auszusieben. Damit niemand einen Platz bekommt, der ihn nicht wirklich braucht, müssen die Kranken ein Bewerbungsverfahren der besonderen Art bestehen: Gewonnen hat hier, wer möglichst schlecht abschneidet. Derjenige also, der vielleicht die Frage nach den Anzeigen und Vorstrafen bejaht und auch die nach den Gewaltphantasien. Es ist ein sehr aufwändiges Verfahren mit vielen Fragen.

Das gefühlte Leben

Marco Meier hat den Test bestanden. Er kommt einmal in der Woche in die Ambulanz. Es ist die erste Therapie, die er in seinem Leben
macht. „Erst hier ist mir bewusst geworden, dass ich immer auch die Wahl hatte, das Gespräch zu suchen“, sagt er.

Eine der ersten Aufgaben, die Marco Meier in der Präventionsambulanz gestellt bekam, war es, einen sogenannten „Gefühlslebenslauf“ zu erstellen. Er sollte aufschreiben, wann ihn in der Vergangenheit ein Ereignis sehr berührt hat – um so dann später herausfinden zu können, wann genau sein Leben aus dem Ruder lief. Also schrieb Marco Meier die gesammelten Katastrophen seines Lebens nieder, die Gewalttat seines Stiefvaters an der Schwester, die Schlägereien auf dem Jahrmarkt und auch die Streits mit seiner Freundin.„Wenn man es richtig formuliert, passt alles auf eine DIN-A4-Seite“, sagt er.

Nicht alle Patienten kommen einmal in der Woche in die Präventionsambulanz – manche haben noch öfter einen Termin, weitere dagegen nur einmal im Monat, je
nachdem, wie akut die Situation gerade ist. Andere wiederum kommen gar nicht, sondern werden zu Hause besucht. „Viele dieser Menschen sind stark antriebsgemindert. Die kommen von selbst nie vorbei“, sagt Nitschke.

Manche absolvieren zunächst eine Gesprächs- oder Verhaltenstherapie, andere kommen statt dessen in eine Gruppentherapie, wo sie unter anderem Rollenspiele mit anderen potenziellen Gewalttätern inszenieren. Teil der Behandlung ist auch immer die Arbeit mit einem Sozialpädagogen – etwa, damit es einem Menschen gelingt, sich nach jahrelanger Passivität wieder eine Tagesstruktur aufzubauen. Manche Patienten wiederum werden medikamentös neu eingestellt, zudem bekommen fast alle auch eine deutliche Ansprache.„Wir sprechen offen an, was passieren kann. Wir sagen den Leuten, dass sie ins Gefängnis kommen könnten und wir sie draußen behalten wollen. Dazu müssen sie aber mitarbeiten“, sagt Nitschke.

Nichts von dem, was in der Präventionsambulanz passiert, ist für sich genommen neu oder revolutionär. Aber all das unter einem Dach, das gab es bisher noch nicht.Oder nur dann, wenn es schon zu spät war.

Das hat vielleicht auch damit zu tun, was man von einem Menschen erwartet. Alle Patienten der Präventionsambulanz haben das Potenzial, ein Liebling der Boulevard-Medien zu werden. Sie sind in der Lage, schreckliche Dinge zu tun – man kann sie dann „Monster“ nennen oder einfach nur „Irre“. Das alles ist aber nicht vorgezeichnet, nicht zwangsläufig. Manchmal hilft es schon, wenn mal einer mit ihnen redet. Ein Fachmann, der weiß, wie er an diese Leute herankommt. So simpel ist der Ansatz der Präventionsambulanz.

Vier Jahre wird es die Einrichtung zunächst geben, das Land Bayern und die Kommune stellen die Mittel zur Verfügung. Gleichzeitig existiert im nördlich von Ansbach gelegenen Erlangen eine Kontrollgruppe: Menschen mit Risikoprofil werden dort – einfach nur beobachtet. Das klingt ein wenig zynisch, sowohl den Kranken gegenüber wie auch der Allgemeinheit, das räumt auch Joachim Nitschke ein – aber anders, sagt er, lasse sich der Erfolg der Präventionsambulanz eben nicht messen. Geht der Ansatz auf, wird es die Einrichtung auch weiter geben.

Für Marco Meier steht es außer Frage, dass ihm der Besuch der Präventionsambulanz weiterhilft. Er sagt, er sehe endlich die Chance, ein gutes Leben zu führen – und diese will er nutzen.Was aber, wenn er nicht hier wäre?Marco Meier wird jetzt wieder zurückhaltend in seinen Formulierungen. „Dann hätte ich in meinem alten Trott weitergelebt. Ich würde nicht ausschließen wollen, dass das unter Umständen einmal mit einer Haftstrafe verbunden gewesen wäre.“ Was das genau bedeutet, weiß nicht einmal er selbst.



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