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Verbrechen und
Wahrscheinlichkeit
Eine Straftat per Computer vorhersagen – das klingt wie Science-Fiction, ist in Zürich aber schon Normalität. Ein Besuch im Lagezentrum der Stadt, die auch ein Vorbild für Berlin werden könnte. Berliner Zeitung, 28.10.2015
Eine ruhige Straßenkreuzung in einem
Altbauviertel. Ein Mann hinter einem Stromkasten, dick
und etwas älter, verwaschene beige Jacke, verwaschener
gelber Pullover, voller Jutebeutel. Er starrt. Man kann
nicht genau sagen, wohin – wohl aber, dass er es schon
länger macht. Reicht das schon für einen Verdacht? „Ich
habe einen kurzen Blick in seine Einkaufstasche geworfen
und die frischen Früchte gesehen. Jetzt bin ich mir
sicher, dass er nur auf jemanden wartet“, sagt Korporal
Schäfer, nachdem er zum zweiten Mal innerhalb von zehn
Minuten an dem Mann vorbeigelaufen ist. Korporal Schäfer
wird sich nicht weiter mit ihm befassen, ganz egal, ob
er sich nun mit einem Freund trifft oder in eine Wohnung
einsteigt. Schäfer hat seine Einschätzung getroffen. Dass er überhaupt hier ist und diesen Mann
mustert, liegt an einer Software. Sie ist auf den
Rechnern im Lagezentrum installiert und berechnet
voraus, wo es hier in Zürich demnächst einen
Wohnungseinbruch geben könnte. Haben die Computer ein
Zielgebiet identifiziert, werden Streifen hingeschickt –
wie die von Korporal Schäfer, einem jungen bärtigen
Mann, der seinen Vornamen nicht nennen will. Er und
seine Kollegen zeigen dann Präsenz, schauen in
Hinterhöfe und Treppenhäuser und sorgen so dafür, dass
es keinen Einbruch gibt. So lautetdie Theorie. Wie Algorithmen helfen „Predictive Policing“ nennt man dieses
Vorgehen, vorausschauende Polizeiarbeit. Das klingt ein
bisschen wie Science-Fiction und ist doch ganz konkrete
Zukunft, jedenfalls in den Träumen vieler Behörden. In
Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Baden-Württemberg,
Brandenburg und auch Berlin läuft eine solche Software
derzeit im Testbetrieb oder dieser wird vorbereitet.
Weiter ist man schon in Zürich, wo die Polizei ganz
regulär mit einem solchen Programm arbeitet. Hier ist es
für die Beamten Alltag, aufgrund von Algorithmen in ein
Quartier geschickt zu werden und dort verstohlen in
Einkaufstaschen zu blicken. Es gibt Menschen, die es für
ein Problem halten,wenn Verdacht durch eine Maschine
erregt wird. In Zürich sagen sie:Wir haben so wenige
Einbrüche wie seit sieben Jahren nicht mehr. Wer sagt, dass Polizeiarbeit in Wahrheit ganz
anders ist,als man es aus dem Fernsehen kennt, der war
noch nie im Lagezentrum der Stadtpolizei Zürich – einem
schlauchförmigen Raum voller Monitore und in gleißendem
Weiß. Es ist ein Raum mit Autorität; einer, der sagt:
bitte Ruhe. Vermutlich deswegen klingt es schon fast
feierlich,wenn Dominik Balogh mit brüchiger Stimme sagt:
„Verbrechen ist nicht gleichförmig,sondern konzentriert.
Bei uns waren 50 Prozent aller Einbrüche im Near
Repeat-Quader.“ Auch das ist eine Eigenschaft dieses
Raumes: Sätze wie diese klingen hier nicht eigenartig,
sondern völlig selbstverständlich.Wir sind zu Gast in
einer Welt mit einer eigenen Sprache. Dominik Balogh ist ein eher kleiner und dürrer
Mann mit geschorenem Haar. Er ist „Chef Analyse und
Entwicklung“ und als solcher mitverantwortlich für den
Einsatz der Software. „Near Repeat“ ist ein
Schlüsselbegriff, wenn er über „Predictive Policing“
redet. Und er bedeutet, dass ein Einbruch in einem
bestimmten Gebiet oft einen ebensolchen in der Nähe nach
sich zieht. Auf einem der Monitore kann man eine
sogenannte Hot-Spot-Karte sehen, die das untermauern
soll.Sie zeigt blaue Punkte auf der Fläche von Zürich,
die zu roten Punkten werden, sobald es viele sind. Das
ist je nach Betrachtungsweise eine Grafik oder ein
Risikogebiet. 2008 fing man in Zürich an, solche Karten
zu erstellen.„Und da haben wir gesehen, dass wir da ein
Problem haben“,sagt Balogh. Die Lösung kommt aus Deutschland und hört auf
den Namen „Precobs“.Wer die umständlich anmutende
Eingabemaske zum ersten Mal sieht, dem fällt es schwer,
in der Arbeit mit dem Programm einen Vorteil zu sehen.
Der Monitor ist zu drei Vierteln belegt von
Eingabefeldern; hat es irgendwo in der Stadt einen
Einbruch gegeben, muss ein Fahnder sich durch viele
Tabellen klicken und sich Mühe geben. Eintragen muss er
etwa, ob der Täter nur Bargeld gestohlen hat oder eine
komplette Wohnzimmereinrichtung, ob er die Tür
aufgebrochen hat oder durch ein Fenster gekommen ist, ob
er Unordnung hinterlassen hat, ob er gesehen wurde. Je
besser Watson seine Arbeitmacht, desto leichter fällt es
Holmes später, Schlüsse zu ziehen.„Das System erfasst
ein ganzes Gebiet innerhalb von Sekunden“, sagt Dominik
Balogh. Wie diese Schlüsse zustande kommen, das ist
Betriebsgeheimnis. Man kann das verstehen, da eben auch
Verbrecher Zeitung lesen. Aber es lässt sich für
Außenstehende so nicht nachvollziehen, warum manche
Einbrüche der Beginn einer Serie sein sollen und andere
nicht.Ist die Gegend wichtiger? Oder die Beute? Das mag
trivial klingen, aber man kann die Frage auch
modifizieren: Angenommen, Zeugen sehen mehrmals in der
Nähe eines Tatortes einen Menschen im Kapuzenpulli – ist
das Grund genug, eine Serie anzunehmen? Wie ist es bei
einem Menschen, der anders aussieht als die
Nachbarschaft? Was ist mit Langhaarigen, Vollbärtigen
oder Schwarzen? So ganz traut die Behörde den
Prophezeiungen ihrer Maschine ohnehin nicht: Das
letzteWort hat immer ein Fahnder, der sie auf
Plausibilität prüft und auf Wichtigkeit. Am Ende gibt es
eine Mitteilung an die Streifen: Liebe Kollegen, wir
rechnen im Gebiet XY mit einer
Einbruchswahrscheinlichkeit von XY – und zwar für die
nächsten sieben Tage. Der Zeitraum ist immer gleich, das
ist so festgelegt. Diese Prognose kommt dann zu Menschen
wie Korporal Schäfer. Man darf sich das nicht so vorstellen, dass er
und sein Kollege bei Erhalt einer Meldung ins Auto
springen und das Martinshorn anstellen. „Wir fahren
immer mal wieder in ein solches Gebiet. Manchmal sind
wir ein oder zwei Stunden da, mal länger, an anderen
Tagen auch gar nicht. “Was aus dem Lagezentrum kommt,
ist eine Empfehlung. Ob die Streifen es umsetzen, ist
die Entscheidung jedes einzelnen Teams. „Es ist aber oft
so, dass wir in ein solches Gebiet fahren und andere
Einsatzkräfte treffen.“ Sind sie dann da, ist ihre Arbeit meistens
unspektakulär – so wie heute: Auf dem Weg mustert
Schäfer einen Parkplatz, im Gebiet begehen die
Polizisten einen Hinterhof und beugen sich über Hecken.
Einen älteren Mann mit Bart grüßt er freundlich, dieser
grüßt ebenso freundlich zurück.„Ich wollte einfach mal
sehen, wie er reagiert.“ Nichts von dem, was die beiden
unternehmen, ist spektakulär, nichts unterscheidet sich
von dem, was sie sonst tun. Nur, dass sie ohne das
Programm höchstwahrscheinlich nicht hier wären. „Unser
Arbeitsalltag hat sich schon verändert. Wir bekommen
einen Hinweis auf ein lukratives Gebiet für Kontrollen
und können so Druck auf die Gegenseite ausüben“,sagt
Schäfer. Was Schäfer begeistert, erfüllt Datenschützer
mit Sorge. „Es besteht die Gefahr, dass sich
Schwerpunkte herausbilden: Wenn bestimmte Gebiete erst
einmal identifiziert sind, wird in ihnen auch verstärkt
kontrolliert. Und dann findet man auch mehr“, sagt der
Soziologe Niklas Creemers, der am Berliner Zentrum
Technik und Gesellschaft die Wirkung von Datenbanken auf
die Polizeiarbeit untersucht. Anders gesagt: Wenn man
nur gut in jeden Jutebeutel sieht, dann ist ein Gebiet
immer auch so, wie es die Maschine vorhergesagt hat:
gefährlicher als andere. Allerdings ist es für den Einzelnen schwer,
diesen Zusammenhang zu erkennen:„Es wirkt oft so, als
liefere die Software ein hochwissenschaftliches
Verfahren. Tatsächlich bildet sie nicht einfach die
Realität ab, sondern sie konstruiert eine eigene
Wirklichkeit.“ Der Algorithmus existiert nicht nur für
sich, er stammt von Entwicklern. Ihm liegen Annahmen
dieser Menschen über ihre Welt zugrunde. So sieht zum
Beispiel eine Hot-Spot-Karte oft schon ganz anders aus,
wenn man nur den Maßstab verändert. Was eben noch ein
Risikogebiet war, wirkt dann wie Zufall. „Predictive Policing“ kann noch mehr. Nicht in
Zürich, hier gibt man sich damit zufrieden, aus Daten
Orte errechnen zu lassen – man kann dasselbe Prinzip
aber auch auf Personen anwenden. So kennt die Polizei in
Chicago rund 500 Menschen, die demnächst in eine
Schießerei verwickelt werden könnten. Erstellt hat die
Liste eine„Predictive Policing“-Software, und sie muss
recht gehabt haben – denn einige Menschen auf der Liste
wurden mittlerweile erschossen. Damit das den anderen
nicht passiert, erhielten sie Besuch von den Beamten und
wurden über ihre Aussichten informiert. „Prävention
haftet eine selbst legitimierende Eigenschaft an: Wer
will schon bestreiten, dass es besser ist, zu handeln,
bevor das Kind in den Brunnen gefallen ist“, sagt der
Duisburger Soziologe Hermann Strasser. Freiheit oder Sicherheit Einen Weg wie in den USA will man in Zürich
nicht gehen. Trotzdem hält man eine Ausweitung für
denkbar, solange das Ziel der Erkenntnis ein Ort ist und
kein konkreter Mensch. Man könnte zum Beispiel
Risikozonen für Fahrzeugaufbrüche benennen. Wer dort
kontrolliert wird, entscheiden die Polizisten vor Ort.
„Wenn man bei Angehörigen einer bestimmten Gruppe immer
wieder etwas findet und bei anderen nicht, dann
konzentriert man sich eben mehr auf diese Gruppe – auch,
wenn der Kontrollierte dann vielleicht denkt: Du bist
ein Rassist. Es gibt da einen Zielkonflikt: Sie können
nicht maximale Freiheit haben und totale Sicherheit“,
sagt Dominik Balogh. Sein Argument: Sieben Prozent
weniger Einbrüche in der ganzen Stadt, sogar 15 in den
ausgewiesenen Gebieten. „Predictive Policing“ kann Verbrechen
verhindern, die noch gar nicht passiert sind. Ob sie
überhaupt geschehen wären – wer soll das messen?
WasWahrheit ist, liegt auch immer im Auge des
Betrachters. Im Falle von Korporal Schäfer bedeutet das,
dass er heute Erfolg hatte – auch, wenn er keinen
Verdächtigen entdecken konnte. „Ich bin mir absolut
sicher, dass es während unserer Anwesenheit im Quartier
keinen Einbruch gegeben hat.“ Dann lächelt er und grüßt
freundlich. Auf der anderen Straßenseite steht ein
Kollege und winkt. |
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