Sebastian_Stoll


 

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Verbrechen und Wahrscheinlichkeit

Eine Straftat per Computer vorhersagen – das klingt wie  Science-Fiction,
 ist in Zürich aber schon Normalität. Ein Besuch im Lagezentrum
der Stadt, die auch ein Vorbild für Berlin werden könnte
.

Berliner Zeitung, 28.10.2015


Eine ruhige Straßenkreuzung in einem Altbauviertel. Ein Mann hinter einem Stromkasten, dick und etwas älter, verwaschene beige Jacke, verwaschener gelber Pullover, voller Jutebeutel. Er starrt. Man kann nicht genau sagen, wohin – wohl aber, dass er es schon länger macht. Reicht das schon für einen Verdacht? „Ich habe einen kurzen Blick in seine Einkaufstasche geworfen und die frischen Früchte gesehen. Jetzt bin ich mir sicher, dass er nur auf jemanden wartet“, sagt Korporal Schäfer, nachdem er zum zweiten Mal innerhalb von zehn Minuten an dem Mann vorbeigelaufen ist. Korporal Schäfer wird sich nicht weiter mit ihm befassen, ganz egal, ob er sich nun mit einem Freund trifft oder in eine Wohnung einsteigt. Schäfer hat seine Einschätzung getroffen.

Dass er überhaupt hier ist und diesen Mann mustert, liegt an einer Software. Sie ist auf den Rechnern im Lagezentrum installiert und berechnet voraus, wo es hier in Zürich demnächst einen Wohnungseinbruch geben könnte. Haben die Computer ein Zielgebiet identifiziert, werden Streifen hingeschickt – wie die von Korporal Schäfer, einem jungen bärtigen Mann, der seinen Vornamen nicht nennen will. Er und seine Kollegen zeigen dann Präsenz, schauen in Hinterhöfe und Treppenhäuser und sorgen so dafür, dass es keinen Einbruch gibt. So lautetdie Theorie.

Wie Algorithmen helfen

„Predictive Policing“ nennt man dieses Vorgehen, vorausschauende Polizeiarbeit. Das klingt ein bisschen wie Science-Fiction und ist doch ganz konkrete Zukunft, jedenfalls in den Träumen vieler Behörden. In Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Baden-Württemberg, Brandenburg und auch Berlin läuft eine solche Software derzeit im Testbetrieb oder dieser wird vorbereitet. Weiter ist man schon in Zürich, wo die Polizei ganz regulär mit einem solchen Programm arbeitet. Hier ist es für die Beamten Alltag, aufgrund von Algorithmen in ein Quartier geschickt zu werden und dort verstohlen in Einkaufstaschen zu blicken. Es gibt Menschen, die es für ein Problem halten,wenn Verdacht durch eine Maschine erregt wird. In Zürich sagen sie:Wir haben so wenige Einbrüche wie seit sieben Jahren nicht mehr.

Wer sagt, dass Polizeiarbeit in Wahrheit ganz anders ist,als man es aus dem Fernsehen kennt, der war noch nie im Lagezentrum der Stadtpolizei Zürich – einem schlauchförmigen Raum voller Monitore und in gleißendem Weiß. Es ist ein Raum mit Autorität; einer, der sagt: bitte Ruhe. Vermutlich deswegen klingt es schon fast feierlich,wenn Dominik Balogh mit brüchiger Stimme sagt: „Verbrechen ist nicht gleichförmig,sondern konzentriert. Bei uns waren 50 Prozent aller Einbrüche im Near Repeat-Quader.“ Auch das ist eine Eigenschaft dieses Raumes: Sätze wie diese klingen hier nicht eigenartig, sondern völlig selbstverständlich.Wir sind zu Gast in einer Welt mit einer eigenen Sprache.

Dominik Balogh ist ein eher kleiner und dürrer Mann mit geschorenem Haar. Er ist „Chef Analyse und Entwicklung“ und als solcher mitverantwortlich für den Einsatz der Software. „Near Repeat“ ist ein Schlüsselbegriff, wenn er über „Predictive Policing“ redet. Und er bedeutet, dass ein Einbruch in einem bestimmten Gebiet oft einen ebensolchen in der Nähe nach sich zieht. Auf einem der Monitore kann man eine sogenannte Hot-Spot-Karte sehen, die das untermauern soll.Sie zeigt blaue Punkte auf der Fläche von Zürich, die zu roten Punkten werden, sobald es viele sind. Das ist je nach Betrachtungsweise eine Grafik oder ein Risikogebiet. 2008 fing man in Zürich an, solche Karten zu erstellen.„Und da haben wir gesehen, dass wir da ein Problem haben“,sagt Balogh.

Die Lösung kommt aus Deutschland und hört auf den Namen „Precobs“.Wer die umständlich anmutende Eingabemaske zum ersten Mal sieht, dem fällt es schwer, in der Arbeit mit dem Programm einen Vorteil zu sehen. Der Monitor ist zu drei Vierteln belegt von Eingabefeldern; hat es irgendwo in der Stadt einen Einbruch gegeben, muss ein Fahnder sich durch viele Tabellen klicken und sich Mühe geben. Eintragen muss er etwa, ob der Täter nur Bargeld gestohlen hat oder eine komplette Wohnzimmereinrichtung, ob er die Tür aufgebrochen hat oder durch ein Fenster gekommen ist, ob er Unordnung hinterlassen hat, ob er gesehen wurde. Je besser Watson seine Arbeitmacht, desto leichter fällt es Holmes später, Schlüsse zu ziehen.„Das System erfasst ein ganzes Gebiet innerhalb von Sekunden“, sagt Dominik Balogh.

Wie diese Schlüsse zustande kommen, das ist Betriebsgeheimnis. Man kann das verstehen, da eben auch Verbrecher Zeitung lesen. Aber es lässt sich für Außenstehende so nicht nachvollziehen, warum manche Einbrüche der Beginn einer Serie sein sollen und andere nicht.Ist die Gegend wichtiger? Oder die Beute? Das mag trivial klingen, aber man kann die Frage auch modifizieren: Angenommen, Zeugen sehen mehrmals in der Nähe eines Tatortes einen Menschen im Kapuzenpulli – ist das Grund genug, eine Serie anzunehmen? Wie ist es bei einem Menschen, der anders aussieht als die Nachbarschaft? Was ist mit Langhaarigen, Vollbärtigen oder Schwarzen?

So  ganz traut die Behörde den Prophezeiungen ihrer Maschine ohnehin nicht: Das letzteWort hat immer ein Fahnder, der sie auf Plausibilität prüft und auf Wichtigkeit. Am Ende gibt es eine Mitteilung an die Streifen: Liebe Kollegen, wir rechnen im Gebiet XY mit einer Einbruchswahrscheinlichkeit von XY – und zwar für die nächsten sieben Tage. Der Zeitraum ist immer gleich, das ist so festgelegt. Diese Prognose kommt dann zu Menschen wie Korporal Schäfer.

Man darf sich das nicht so vorstellen, dass er und sein Kollege bei Erhalt einer Meldung ins Auto springen und das Martinshorn anstellen. „Wir fahren immer mal wieder in ein solches Gebiet. Manchmal sind wir ein oder zwei Stunden da, mal länger, an anderen Tagen auch gar nicht. “Was aus dem Lagezentrum kommt, ist eine Empfehlung. Ob die Streifen es umsetzen, ist die Entscheidung jedes einzelnen Teams. „Es ist aber oft so, dass wir in ein solches Gebiet fahren und andere Einsatzkräfte treffen.“

Sind sie dann da, ist ihre Arbeit meistens unspektakulär – so wie heute: Auf dem Weg mustert Schäfer einen Parkplatz, im Gebiet begehen die Polizisten einen Hinterhof und beugen sich über Hecken. Einen älteren Mann mit Bart grüßt er freundlich, dieser grüßt ebenso freundlich zurück.„Ich wollte einfach mal sehen, wie er reagiert.“ Nichts von dem, was die beiden unternehmen, ist spektakulär, nichts unterscheidet sich von dem, was sie sonst tun. Nur, dass sie ohne das Programm höchstwahrscheinlich nicht hier wären. „Unser Arbeitsalltag hat sich schon verändert. Wir bekommen einen Hinweis auf ein lukratives Gebiet für Kontrollen und können so Druck auf die Gegenseite ausüben“,sagt Schäfer.

Was Schäfer begeistert, erfüllt Datenschützer mit Sorge. „Es besteht die Gefahr, dass sich Schwerpunkte herausbilden: Wenn bestimmte Gebiete erst einmal identifiziert sind, wird in ihnen auch verstärkt kontrolliert. Und dann findet man auch mehr“, sagt der Soziologe Niklas Creemers, der am Berliner Zentrum Technik und Gesellschaft die Wirkung von Datenbanken auf die Polizeiarbeit untersucht. Anders gesagt: Wenn man nur gut in jeden Jutebeutel sieht, dann ist ein Gebiet immer auch so, wie es die Maschine vorhergesagt hat: gefährlicher als andere.

Allerdings ist es für den Einzelnen schwer, diesen Zusammenhang zu erkennen:„Es wirkt oft so, als liefere die Software ein hochwissenschaftliches Verfahren. Tatsächlich bildet sie nicht einfach die Realität ab, sondern sie konstruiert eine eigene Wirklichkeit.“ Der Algorithmus existiert nicht nur für sich, er stammt von Entwicklern. Ihm liegen Annahmen dieser Menschen über ihre Welt zugrunde. So sieht zum Beispiel eine Hot-Spot-Karte oft schon ganz anders aus, wenn man nur den Maßstab verändert. Was eben noch ein Risikogebiet war, wirkt dann wie Zufall.

„Predictive Policing“ kann noch mehr. Nicht in Zürich, hier gibt man sich damit zufrieden, aus Daten Orte errechnen zu lassen – man kann dasselbe Prinzip aber auch auf Personen anwenden. So kennt die Polizei in Chicago rund 500 Menschen, die demnächst in eine Schießerei verwickelt werden könnten. Erstellt hat die Liste eine„Predictive Policing“-Software, und sie muss recht gehabt haben – denn einige Menschen auf der Liste wurden mittlerweile erschossen. Damit das den anderen nicht passiert, erhielten sie Besuch von den Beamten und wurden über ihre Aussichten informiert. „Prävention haftet eine selbst legitimierende Eigenschaft an: Wer will schon bestreiten, dass es besser ist, zu handeln, bevor das Kind in den Brunnen gefallen ist“, sagt der Duisburger Soziologe Hermann Strasser.

Freiheit oder Sicherheit

Einen Weg wie in den USA will man in Zürich nicht gehen. Trotzdem hält man eine Ausweitung für denkbar, solange das Ziel der Erkenntnis ein Ort ist und kein konkreter Mensch. Man könnte zum Beispiel Risikozonen für Fahrzeugaufbrüche benennen. Wer dort kontrolliert wird, entscheiden die Polizisten vor Ort. „Wenn man bei Angehörigen einer bestimmten Gruppe immer wieder etwas findet und bei anderen nicht, dann konzentriert man sich eben mehr auf diese Gruppe – auch, wenn der Kontrollierte dann vielleicht denkt: Du bist ein Rassist. Es gibt da einen Zielkonflikt: Sie können nicht maximale Freiheit haben und totale Sicherheit“, sagt Dominik Balogh. Sein Argument: Sieben Prozent weniger Einbrüche in der ganzen Stadt, sogar 15 in den ausgewiesenen Gebieten.

„Predictive Policing“ kann Verbrechen verhindern, die noch gar nicht passiert sind. Ob sie überhaupt geschehen wären – wer soll das messen? WasWahrheit ist, liegt auch immer im Auge des Betrachters.

Im Falle von Korporal Schäfer bedeutet das, dass er heute Erfolg hatte – auch, wenn er keinen Verdächtigen entdecken konnte. „Ich bin mir absolut sicher, dass es während unserer Anwesenheit im Quartier keinen Einbruch gegeben hat.“ Dann lächelt er und grüßt freundlich. Auf der anderen Straßenseite steht ein Kollege und winkt.

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