Sebastian_Stoll


 

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Das gute alte Rein-Raus-Spiel

Verzeihung, wo geht's denn hier nach Kreuzkölln? Seit
der Wende sind zwei Millionen Menschen nach Berlin
gekommen und zwei Millionen weggezogen. Fragt sich nur,
 wo die alle herkommen. Und wo um Gottes
 Willen sie hingegangen sind
.


Dummy, Heft 22, Frühjahr 2009



I. Am Anfang steht das Klo im Treppenhaus, am Ende Sushi und Zebrafleisch


Wer Dinge haben will, die er eigentlich nicht braucht, sollte die Gegend um den Helmholtzplatz aufsuchen: Man kann dort asiatische Geschenkartikel kaufen, Weisstees oder solche vom südafrikanischen Honigbusch – und auch „Bilderaufhängungssysteme“, mit deren Hilfe man Bilder an der Wand aufhängen kann. Man kann dort Sushi essen oder Zebrafleisch, Yoga lernen oder Drehbuchschreiben. Schwierig kann es werden, Hackfleisch zu kaufen, jedenfalls, wenn der Preis wichtiger ist als die Vergangenheit der Tiere.

„Die Bevölkerungsstruktur am Helmholtzplatz hat sich in den letzten Jahren komplett verändert.“ Katja Seidel ist Soziologin und hat in einer Langzeitstudie den Wandel des Helmholtzplatzes untersucht – einem Gebiet im Ostberliner Viertel Prenzlauer Berg, in dem die Menschen Anfang der 90er-Jahre eine 100-Quadratmeter-Wohnung für 100 DM mieten konnten. Vorausgesetzt, sie waren bereit, im Winter zu frieren und sich ihre Toilette mit dem Nachbarn zu teilen. Heute hat jede Wohnung eine eigene Toilette, viele sogar zwei, Stäbchenparekett und Dachterrasse. Dafür kosten sie auch das Zwanzigfache.

Nicht überall in Berlin ist das Leben so teuer wie am Helmholtzplatz: Wer heute billigen Wohnraum sucht, muss in Gebiete ziehen, die vielleicht einmal blühende Landschaften waren, in leerstehende Plattenbauten am östlichen Stadtrand oder in ehemalige Arbeiterviertel der westlichen Innenstadt, in denen es genau das nicht mehr gibt: Arbeiter. An vielen Ecken der Stadt hat sich das Leben in kürzester Zeit rapide verändert. Das liegt daran, dass Berlin Menschen ein- und ausatmet wie kaum ein anderer Ort in Europa: Zwei Millionen Zuwanderer kamen seit der Wende in die Stadt – und fast ebenso viele Menschen haben sie im selben Zeitraum verlassen. Rein statistisch ist mehr als die Hälfte der Bevölkerung Neu-Berliner, denn insgesamt leben nicht mehr als 3,5 Millionen Menschen hier. Aber je zwei Millionen Zu- und Abwanderer, das sind ebenso zwei Millionen Gründe in die Stadt zu kommen und zwei Millionen Gründe, sie zu verlassen. Und das hinterlässt Spuren bis in den letzten Winkel der Metropole.


II. Nach der Wende baut der Senat Wohnungen, die niemand braucht


Dass Berlin so werden konnte, wie es heute ist, liegt auch daran, dass es eigentlich ganz anders werden sollte: Mindestens 4,9 Millionen Menschen würden im Jahr 2010 in der Region leben, vielleicht aber auch 5,7 Millionen – das jedenfalls prognostizierte die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung im Jahr 1991. Also mussten dringend Wohnungen gebaut werden, 135.000 waren es im Stadtgebiet, 120.000 außerhalb. Aber dann gingen viel mehr Menschen weg, als man in der Vereinigungseuphorie gedacht hatte: Allein in den Jahren von 1993 bis 1995 verlor Berlin 200.000 Einwohner. Der wirtschaftliche Aufschwung, den die Stadtentwickler in ihren Prognosen als ganz selbstverständlich vorausgesetzt hatten, fiel aus. Dafür gab es nach dem Wegfall der Grenze Wohnraum im Umland: Günstig war er, aber nicht spottbillig. Also zogen vor allem Familien aus der Mittelschicht fort, die das Grau der Stadt gegen Grün tauschen wollten. Was blieb, waren leere Wohnungen.

„Anfang der 90er war der Prenzlauer Berg ein vergessener Bezirk. Und das hat sich schnell herumgesprochen“, sagt Katja Seidel. Bis 1995 hatten über 60.000 Menschen den Bezirk verlassen, aber fast ebenso viele waren hinzugezogen – bei einer Gesamtbevölkerung von nicht mal 150.000 Menschen. Künstler waren gekommen, einstige Hausbesetzer aus Kreuzberg, die jetzt manchmal Miete zahlten, ebenso Studenten – erst aus anderen Bezirken der Stadt, später aus dem gesamten Bundesgebiet. Das Viertel, das vor wenigen Jahren noch tot war, blühte plötzlich auf. Aber einige Pflanzen, deren Biotop es lange gewesen war, verschwanden ganz.

„Gentrifizierung“ lautet ein soziologischer Fachbegriff, der von dem englischen Begriff „gentry“ – niederer Adel – abstammt und die komplette Umstrukturierung eines Stadtteils beschreibt. Der Prozess läuft immer gleich und beginnt in verfallenen Innenstadtbezirken: Die Mieten sind niedrig, es kommen Menschen, die den Häusern und Straßen Leben einhauchen, die eine alternative Kultur zum Rest der Stadt entwickeln, die schnell mehrheitsfähig wird. Zudem werden aus Studenten Studierte, Künstler und Selbstständige etablieren sich. Wo mehr Geld ist, da entstehen der Theorie zufolge neue Bedürfnisse: Wohnungen und Häuser werden schicker, gegessen wird im Restaurant. Mit dem Lebensstandard der Bewohner steigen auch die Mieten – bis irgendwann ein Punkt erreicht ist, an dem für genau jene Art von Menschen, die das Viertel einstmals aufgewertet hat, kein Platz mehr ist.

Für Katja Seidel war am Helmholtzplatz dieser Prozess spätestens um die Jahrtausendwende vollendet: Inzwischen hatte ein Laden eröffnet, der über hundert Sorten Luxus-Schokolade verkaufte und ein Schwebebad, in dem Menschen sich nach Feierabend zu Entspannungsmusik in abgedunkelte Wassertanks legen konnten, das Friseurgeschäft hieß nicht mehr „Friseur“, sondern „Hairways“. Fast die Hälfte der Helmholtzplatz-Bewohner waren jetzt Absolventen einer Hoch- oder Fachhochschule. „Inzwischen kommen nur noch Menschen, die einen ganz anderen Anspruch haben“, sagt sie.


III. In Prenzlauer Berg gibt es keine Türken, nur „Nylons“


Viele Leute, die heute in die östlichen Innenstadtbezirke ziehen, werden auch als ‚Nylons“ bezeichnet. Das ist ein Kunstwort aus den Buchstaben N und Y für ‚New York’ und ‚Lon’ für ‚London’“, sagt Franz-Josef Kemper, der als Humangeograph an der Humboldt-Universität moderne Wanderungsströme analysiert. „Nylons“ seien Menschen, die ihrem Empfinden nach in einer einzigen Stadt leben – diese aber ist manchmal über mehrere Kontinente verteilt. „Plurilokalität“ nennt Kemper das und spricht von „besonders hoch qualifizierten Menschen, die nie lange bleiben, und die häufig in Kulturberufen arbeiten.“ Natürlich pendelt nicht jeder Nylon unentwegt zwischen New York, London und Berlin. Kemper zufolge sind die Menschen, die heute nach Prenzlauer Berg und Mitte ziehen, älter als früher, meistens zwischen 25 und 40 Jahren, gebildet und häufig aus dem Ausland – aber fast nur aus Industriestaaten. Während nach Kreuzberg Türken ziehen, kommen in die östliche Innenstadt viele Menschen aus Frankreich, den USA oder Skandinavien. „Über 40 Prozent der Ausländer in Berlin sind Akademiker“, so Kemper, „das ist eine enorme Zahl, viel höher etwa als bei den Deutschen.“

Etwa 470.000 Menschen mit ausländischem Pass leben laut statistischem Landesamt in Berlin – und jedes Jahr kommen knapp 40.000 hinzu. Mit der Stadt haben sich auch die Menschen verändert, die von ihr angezogen werden: Im Jahr 2007 kam fast die Hälfte von ihnen aus Amerika oder den sogenannten EU-15, also jenen Staaten, die bereits vor der Osterweiterung Mitglied der EU waren. Aus der Türkei hingegen zogen in dieser Zeit keine 2.000 Menschen nach Berlin – was allerdings auch daran liegt, dass die Einwanderungsbedingungen für Türken heute weitaus restriktiver sind als früher. Die Menschen aus der mit Abstand größten Zuwanderergruppe jedoch hatten es nicht weit: Fast 8000 Polen kamen 2007 neu in die Stadt, so dass mittlerweile etwa 45.000 von ihnen in Berlin leben – offiziell.

Wie viele Polen tatsächlich in Berlin sind, ist statistisch gar nicht zu erfassen. Viele fahren regelmäßig in die Heimat zurück oder halten sich ohnehin nur für eine kurze Zeit in der Stadt auf. Die haben ihren Wohnsitz in Polen gar nicht aufgegeben“, sagt Franz-Josef Kemper. Es ist nicht die große weite Welt, die diese Menschen suchen, sondern einfach jemand, der verhältnismäßig gut zahlt: Natürlich gibt es auch polnische Nylons – die meisten aber kommen für einen Handwerkerauftrag oder arbeiten als Pflegekräfte. Das jedenfalls legen Befragungen nahe, die Kemper in Zügen zwischen Polen und Deutschland vorgenommen hat.


IV. Polen ist offen - die Plattenbauten füllen sich


Wer aber nach Berlin zieht, um aus wenig Geld ein bisschen mehr zu machen, legt bei der Wahl seines Wohnsitzes kaum Wert auf ein Schwebebad in der Nachbarschaft. Laut der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung sind es teilweise die Plattenbausiedlungen in Osten der Stadt, vor allem aber westliche Innenstadtbezirke wie Neukölln, Tiergarten und Wedding, in denen sich die Polen niederlassen – jene Bezirke also, deren Bewohner mit etwa 800 Euro monaltlich über das geringste durchschnittliche Nettoeinkommen verfügen.

Das war nicht immer so, denn zu Zeiten des Kalten Krieges war Westberlin nicht nur bedroht, sondern auch hochsubventioniert. Was aber macht eine Frontstadt, wenn die Front zusammenbricht? Sparen. Ebenso wie die ansässigen Betriebe, die nun entweder pleite gingen oder dahin, wo es die Subventionen gab – also in die neuen Bundesländer. Gab es in der Gesamtstadt 1989 noch fast 400.000 Beschäftigte in der Industrie, waren es 1997 gerade mal 179.000. Die Tragik der westlichen Innenstadt besteht paradoxerweise genau darin, dass sie nicht so verfallen war wie die östliche: Während der Prenzlauer Berg mehr aus Trümmern denn aus Altbauten bestand und deshalb bald Platz für Neues bot, setzte in den Westbezirken ein Abwärtstrend ein – langsam aber kontinuierlich wurden aus Arbeitern Arbeitslose, gleichzeitig wanderte die Mittelschicht ab. Verstärkt wird dieser Trend heute dadurch, dass Menschen mit niedrigem Einkommen dorthin ziehen, wo es billig ist – genau da nämlich, wo bereits die Nachbarschaft wenig Geld hat.


V. Armer Westen: Wenn das Nagelstudio kommt, ist meist schon alles zu spät


Wenn ein Stadtviertel verarmt, kann man diese Veränderung der Geschäftswelt sehen: Buch- und Blumenläden schließen, ersetzt werden sie durch Läden, die den kleinen Luxus bieten – wie Solarien und Nagelstudios. Alles wird eine Nummer kleiner: Aus den Supermarktregalen verschwinden die oberen Preisklassen, nebenan eröffnet die Reste-Rampe und der Telefonshop – und sehr viel läuft über Kleingewerbe. Natürlich ist das alles theoretisch, denn auch in Bezirken wie Neukölln gibt es Menschen, die Bücher lesen und Blumen mögen – aber eben auch Läden, die Namen tragen wie „Dryja Dung Ngoc Nagelstudio“, „Restposten-Berlin“ oder „Der Trödel-Dödel“. Schon seit 1994 liegt die Arbeitslosigkeit in Westberlin höher als im Ostteil der Stadt.

Das bedeutet aber nicht, dass die Quote dort niedrig wäre –  sie erreicht in jedem Bezirk der Stadt zweistellige Ausmaße. „Berlin hat einfach eine unglaubliche Schwäche in der Ökonomie. Deswegen gibt es auch so viele Arbeitsplatzwanderer.“ Franz-Josef Kemper meint damit vor allem Menschen im Alter zwischen 25 und 40 Jahren – jedes Jahr verlassen über 20.000 Menschen aus dieser Altersklasse die Stadt, die meisten gehen in ein anderes Bundesland: „Das sind häufig Leute, die gerade ihr Studium abgeschlossen haben oder mitten im Erwerbsleben stehen. Die sehen vor allem in Süddeutschland bessere Chancen.“ Nicht jeder Hochschulabsolvent und jeder Angestellte fällt in die Kategorie des kosmopolitischen Nylons: Es sind weniger die Eliten, welche die Stadt verlassen und auch nicht Menschen, die in Armut leben – sondern eher Leute aus der Mittelschicht.


VI. Ringelpiez mit Anfassen: Die Wanderung zwischen den Bezirken


Die Konsequenzen sind naheliegend: Jeder dieser Menschen hinterlässt ein Loch – wer es auffüllt, das hängt davon ab, aus welchem Bezirk jemand abwandert. Nahezu 150.000 Menschen ziehen Jahr für Jahr von einem Berliner Bezirk in einen anderen – und zwar entweder dorthin, wo sie wollen, oder aber dorthin, wo sie müssen: „Die Stadt fragmentiert. Das ist ein allgemeiner Trend“, sagt Franz-Josef Kemper. Arme Bezirke werden kontinuierlich ärmer, wohlhabende reich. Dafür sind Zu- und Abwanderung nicht alleine verantwortlich, aber sie verstärken den Trend – und wer nach Berlin zieht, das hängt wiederum davon ab, welche Stadt er vorfindet.

Und doch gibt es ganz andere Entwicklungen: Das Viertel um den Neuköllner Reuterplatz etwa ist eines der ärmsten der ganzen Stadt, die Arbeitslosenquote liegt bei 35 Prozent. Und auch die Rütli-Schule befindet sich im Viertel; jene Schule also, deren Lehrer sich im März 2006 mit einem Brief an die Öffentlichkeit wandten, da sie die „Aggressivität, Respektlosigkeit und Ignoranz“ ihrer Schüler nicht mehr aushielten. Hier ist das Leben preiswert – auch für viele Studenten, die keine Wohnung in Gebieten wie dem Helmholtzplatz mehr bezahlen können.

Mitgebracht haben die Zuwanderer Kneipen, die „Freies Neukölln“ heißen oder „Raumfahrer“. Erste Yoga-Schulen haben eröffnet. Man kann im Viertel T-Shirts kaufen, auf denen in Großbuchstaben das Wort „Rütli“ steht oder solche mit dem Aufdruck „Kreuzkölln“das ist der Name, den irgendjemand Kluges dem Straßenzug in der Nähe von Kreuzberg gegeben hat. Kreuzkölln – das klingt neu und schick. Es ist eine Self Fulfilling Prophecy, die erstaunlich gut funktioniert. Die rhetorische und reale Aufwertung gehen Hand in Hand. Für viele Menschen beginnt dort gerade eine wunderbare Zeit, viele die dort früher mal gewohnt haben, können es nicht glauben. Und für den Rest gibt es dann noch Wedding und den Tiergarten. Irgendwie, irgendwo, irgendwann.

          
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