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Das gute alte Rein-Raus-Spiel
Verzeihung, wo geht's denn hier nach Kreuzkölln? Seit der Wende sind zwei Millionen Menschen nach Berlin gekommen und zwei Millionen weggezogen. Fragt sich nur, wo die alle herkommen. Und wo um Gottes Willen sie hingegangen sind. Dummy, Heft 22, Frühjahr 2009
„Die Bevölkerungsstruktur am Helmholtzplatz hat sich
in den
letzten Jahren komplett verändert.“ Katja Seidel ist Soziologin und hat
in
einer Langzeitstudie den Wandel des Helmholtzplatzes untersucht – einem
Gebiet
im Ostberliner Viertel Prenzlauer Berg, in dem die Menschen Anfang der
90er-Jahre eine 100-Quadratmeter-Wohnung für 100 DM mieten konnten.
Vorausgesetzt, sie waren bereit, im Winter zu frieren und sich ihre
Toilette
mit dem Nachbarn zu teilen. Heute hat jede Wohnung eine eigene
Toilette, viele sogar zwei, Stäbchenparekett und Dachterrasse. Dafür
kosten sie auch das
Zwanzigfache. Nicht überall in Berlin ist das Leben so teuer wie
am
Helmholtzplatz: Wer heute billigen Wohnraum sucht, muss in Gebiete
ziehen, die
vielleicht einmal blühende Landschaften waren, in leerstehende
Plattenbauten am
östlichen Stadtrand oder in ehemalige Arbeiterviertel der westlichen
Innenstadt, in denen es genau das nicht mehr gibt: Arbeiter. An vielen
Ecken
der Stadt hat sich das Leben in kürzester Zeit rapide verändert. Das
liegt
daran, dass Berlin Menschen ein- und ausatmet wie kaum ein anderer Ort
in
Europa: Zwei Millionen Zuwanderer kamen seit der Wende in die Stadt –
und fast ebenso
viele Menschen haben sie im selben Zeitraum verlassen. Rein statistisch
ist mehr als die Hälfte der Bevölkerung Neu-Berliner, denn insgesamt
leben nicht mehr als 3,5
Millionen Menschen hier. Aber je zwei Millionen Zu- und Abwanderer,
das sind ebenso zwei Millionen Gründe in die Stadt zu kommen und zwei
Millionen
Gründe, sie zu verlassen. Und das hinterlässt Spuren bis in den letzten
Winkel
der Metropole.
„Anfang der 90er war der Prenzlauer Berg ein vergessener Bezirk. Und das hat sich schnell herumgesprochen“, sagt Katja Seidel. Bis 1995 hatten über 60.000 Menschen den Bezirk verlassen, aber fast ebenso viele waren hinzugezogen – bei einer Gesamtbevölkerung von nicht mal 150.000 Menschen. Künstler waren gekommen, einstige Hausbesetzer aus Kreuzberg, die jetzt manchmal Miete zahlten, ebenso Studenten – erst aus anderen Bezirken der Stadt, später aus dem gesamten Bundesgebiet. Das Viertel, das vor wenigen Jahren noch tot war, blühte plötzlich auf. Aber einige Pflanzen, deren Biotop es lange gewesen war, verschwanden ganz. „Gentrifizierung“ lautet ein soziologischer
Fachbegriff, der
von dem englischen Begriff „gentry“ – niederer Adel – abstammt und die
komplette Umstrukturierung eines Stadtteils beschreibt. Der Prozess
läuft immer
gleich und beginnt in verfallenen Innenstadtbezirken: Die Mieten sind
niedrig,
es kommen Menschen, die den Häusern und Straßen Leben einhauchen, die
eine
alternative Kultur zum Rest der Stadt
entwickeln, die schnell mehrheitsfähig wird. Zudem werden aus Studenten
Studierte, Künstler und Selbstständige etablieren sich. Wo mehr Geld
ist, da
entstehen der Theorie zufolge neue Bedürfnisse: Wohnungen und Häuser
werden
schicker, gegessen wird im Restaurant. Mit dem Lebensstandard der
Bewohner
steigen auch die Mieten – bis irgendwann ein Punkt erreicht ist, an dem
für
genau jene Art von Menschen, die das Viertel einstmals aufgewertet hat,
kein
Platz mehr ist. Für Katja Seidel war am Helmholtzplatz dieser
Prozess
spätestens um die Jahrtausendwende vollendet: Inzwischen hatte ein
Laden
eröffnet, der über hundert Sorten Luxus-Schokolade verkaufte und ein
Schwebebad, in dem Menschen sich nach Feierabend zu Entspannungsmusik
in
abgedunkelte Wassertanks legen konnten, das Friseurgeschäft hieß nicht
mehr
„Friseur“, sondern „Hairways“. Fast die Hälfte der
Helmholtzplatz-Bewohner
waren jetzt Absolventen einer Hoch- oder Fachhochschule. „Inzwischen
kommen nur
noch Menschen, die einen ganz anderen Anspruch haben“, sagt sie.
Etwa 470.000 Menschen
mit ausländischem Pass leben laut
statistischem Landesamt in Berlin – und jedes Jahr kommen knapp 40.000
hinzu.
Mit der Stadt haben sich auch die Menschen verändert, die von ihr
angezogen
werden: Im Jahr 2007 kam fast die Hälfte von ihnen aus Amerika oder den
sogenannten EU-15, also jenen Staaten, die bereits vor der
Osterweiterung
Mitglied der EU waren. Aus der Türkei hingegen zogen in dieser Zeit
keine 2.000
Menschen nach Berlin – was allerdings auch daran liegt, dass die
Einwanderungsbedingungen für Türken heute weitaus restriktiver sind als
früher.
Die Menschen aus der mit Abstand größten Zuwanderergruppe jedoch hatten
es
nicht weit: Fast 8000 Polen kamen 2007 neu in die Stadt, so dass
mittlerweile
etwa 45.000 von ihnen in Berlin leben – offiziell. Wie
viele Polen tatsächlich in Berlin sind, ist statistisch
gar nicht zu erfassen. Viele fahren regelmäßig in die Heimat zurück
oder halten
sich ohnehin nur für eine kurze Zeit in der Stadt auf. Die haben ihren
Wohnsitz
in Polen gar nicht aufgegeben“, sagt Franz-Josef Kemper. Es ist nicht
die große
weite Welt, die diese Menschen suchen, sondern einfach jemand, der
verhältnismäßig gut zahlt: Natürlich gibt es auch polnische Nylons –
die
meisten aber kommen für einen Handwerkerauftrag oder arbeiten als
Pflegekräfte.
Das jedenfalls legen Befragungen nahe, die Kemper in Zügen zwischen
Polen und
Deutschland vorgenommen hat.
Das war nicht immer
so, denn zu Zeiten des Kalten Krieges
war Westberlin nicht nur bedroht, sondern auch hochsubventioniert. Was
aber
macht eine Frontstadt, wenn die Front zusammenbricht? Sparen. Ebenso
wie die
ansässigen Betriebe, die nun entweder pleite gingen oder dahin, wo es
die
Subventionen gab – also in die neuen Bundesländer. Gab es in der
Gesamtstadt
1989 noch fast 400.000 Beschäftigte in der Industrie, waren es 1997
gerade mal
179.000. Die Tragik der westlichen Innenstadt besteht paradoxerweise
genau
darin, dass sie nicht so verfallen war wie die östliche: Während der
Prenzlauer
Berg mehr aus Trümmern denn aus Altbauten bestand und deshalb bald
Platz für
Neues bot, setzte in den Westbezirken ein Abwärtstrend ein – langsam
aber
kontinuierlich wurden aus Arbeitern Arbeitslose, gleichzeitig wanderte
die
Mittelschicht ab. Verstärkt wird dieser Trend heute dadurch, dass
Menschen mit
niedrigem Einkommen dorthin ziehen, wo es billig ist – genau da
nämlich, wo
bereits die Nachbarschaft wenig Geld hat.
Das
bedeutet aber nicht, dass die Quote dort niedrig wäre
– sie erreicht in jedem Bezirk der
Stadt zweistellige Ausmaße. „Berlin hat einfach eine unglaubliche
Schwäche in
der Ökonomie. Deswegen gibt es auch so viele Arbeitsplatzwanderer.“
Franz-Josef
Kemper meint damit vor allem Menschen im Alter zwischen 25 und 40
Jahren –
jedes Jahr verlassen über 20.000 Menschen aus dieser Altersklasse die
Stadt,
die meisten gehen in ein anderes Bundesland: „Das sind häufig Leute,
die gerade
ihr Studium abgeschlossen haben oder mitten im Erwerbsleben stehen. Die
sehen
vor allem in Süddeutschland bessere Chancen.“ Nicht jeder
Hochschulabsolvent
und jeder Angestellte fällt in die Kategorie des kosmopolitischen
Nylons: Es
sind weniger die Eliten, welche die Stadt verlassen und auch nicht
Menschen,
die in Armut leben – sondern eher Leute aus der Mittelschicht.
Und doch gibt es ganz andere Entwicklungen: Das
Viertel um
den Neuköllner Reuterplatz etwa ist eines der ärmsten der ganzen Stadt,
die
Arbeitslosenquote liegt bei 35 Prozent. Und auch die Rütli-Schule
befindet sich
im Viertel; jene Schule also, deren Lehrer sich im März 2006 mit einem
Brief an
die Öffentlichkeit wandten, da sie die „Aggressivität, Respektlosigkeit
und
Ignoranz“ ihrer Schüler nicht mehr aushielten. Hier ist das Leben
preiswert – auch
für viele Studenten, die keine
Wohnung in Gebieten wie dem Helmholtzplatz mehr bezahlen können. Mitgebracht haben die Zuwanderer Kneipen, die
„Freies
Neukölln“ heißen oder „Raumfahrer“. Erste Yoga-Schulen haben eröffnet.
Man kann
im Viertel T-Shirts kaufen, auf denen in Großbuchstaben das Wort
„Rütli“ steht
oder solche mit dem Aufdruck „Kreuzkölln“
– das ist der Name, den irgendjemand Kluges dem Straßenzug in der
Nähe von
Kreuzberg gegeben hat. Kreuzkölln – das klingt neu und schick. Es ist
eine Self Fulfilling Prophecy, die erstaunlich gut funktioniert. Die
rhetorische
und reale Aufwertung gehen Hand in Hand. Für viele Menschen beginnt
dort gerade
eine wunderbare Zeit, viele die dort früher mal gewohnt haben, können
es nicht
glauben. Und für den Rest gibt es dann
noch Wedding und den Tiergarten. Irgendwie, irgendwo, irgendwann. |
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